Der Diamant des Salomon
Stadt zu verlassen.
Isaak stieg leise aus dem Bett, um seine schlafende Frau nicht zu wecken. Es war Neumond und zudem eine so späte Stunde, daß niemand sehen konnte, wie der Jude von Treviso neben den Viehställen etwas aus der Erde grub. Der kleine Beutel aus einer Ziege n blase war n och gen a u dort, wo Isaak ihn vor langer Zeit vergraben hatte. Er öffnete ihn und holte den gelben Stein hervor, den er auf seiner dritten Reise erworben hatte. Dieser Diamant repräsentierte den gesamten Verdienst ganzer Generationen der Diamantenhändlerf a milie Vitall o . Das Vermögen, das er darstellte, mochte viellei c ht bescheidener sein als das, was andere wohlhabende Leute, darunter auch einige Juden, zusa m m engetragen hatten, aber es war dennoch viel mehr, als sich Isaaks V orfahren je hätten träumen lassen. Isaak hatte den Stein zu einer Zeit, in der er in einem bestimmten Land weit unter sei n em wahren Wert zu kaufen gewesen war, günstig angeboten bekommen, aber trotzdem hatte er damals so gut wie seine ganzen Kapitalreserven flüssigmachen müssen. Aber der Diamant war es wert. Er ermöglichte es Isa a k, sollte er einmal zu fliehen gez w ungen sein, jederz e it den größten Teil seines Vermögens mit sich zu nehmen. Dafür mußte er allerdings das Risiko in Kauf nehmen, daß ihn ein Dieb mit einem Schlag zum armen Mann machen konnte. Die A ngst davor war auch der Grund, warum Isaak von Zeit zu Zeit nachsah, ob der vergrabene Beutel noch immer an seinem Platz war.
Würde dieser Stein, wenn sie Venedig verlassen mußten, ihnen woanders ein gesichertes Leben ermöglichen? Bei der großen Judenvertreibung aus Spanien hatten achthunderttausend Menschen dieses Land verlassen müssen, ohne zu wissen, wo sie hätten hingehen können.
Manche waren in Booten nach Nordafrika geflohen, wo die Araber ihre Frauen verg e waltigt und auf der Suche nach verschluckten Wertsachen den Männern die Bäuche aufgeschlitzt hatten. Andere waren über die Grenze nach Portugal gegangen, wo man ihnen den Aufenthalt im Austausch ihres gesamten Besitzes gestattet hatte. Dann hatten ihnen die Portugiesen vor ihren Augen ihre Söhne und Töchter fortgeschleppt und zwangsweise getauft.
Tausende von unglücklichen spanischen Juden waren als Sklaven ve r kauft worden, Abe r tausende hatten Selbstmord begangen. Im Hafen von Genua war mehreren Flotten voller hunge r nder Flüchtlin g e der Zutritt z ur Stadt verweigert worden. Reiche und arme Juden w aren gleichermaßen im Hafen an Hunger gestorben, und ihre verwesenden Leichen hatten eine Seuche ausgelöst, der schließlich zwanzigtausend Genueser zum Opfer gefallen waren.
Isaak erschauderte, als er an das alles denken mußte. Er steckte d en Diamanten wieder in den Beutel, vergrub ihn und verwischte sorgfältig die Spuren seines nächtlichen Tuns.
In Venedig beteten jetzt viele Juden verzweifelt und stundenlang. Andere fasteten, als könnten sie Gottes Gnade erzwingen, indem sie sich selbst kasteiten. Isaak hatte schon vor langer Zeit die Erfahrung gemacht, daß man nicht auf die hören durfte, die händeringend ihr eigenes Schicksal beklagten. Statt dess e n traf er sich mit ein paar nüchtern denkenden Männern, die der Gefahr ins Auge blicken konnten.
»Denkst du, daß sie es diesmal ernst meinen?« fragte Rabbi Rafael Nahmia. Isaak nickte.
»Das glaube ich auch«, sagte Judah ben David, der Arzt des Dogen.
»Sie haben es schon oft gesag t «, gab der Rabbi zu bedenken.
»Aber da war Simon von Trient noch nicht heiliggesprochen«, konterte Isaak. »Jetz t , im Jahr ihres H errn 1588, ist das etwas ganz anderes.«
Die meisten Hoffnungen setzten sie auf den Geldhandel. Seit der Römerzeit hatte man den J uden in den oberitalienischen Stadtstaaten keine Auflagen gemacht, und so hatten sie dort in großer Zahl als B auern, Arbeiter, Kaufleute und Handwerker gelebt. Dann aber hatten sich langsam die großen itali e nischen Handels- und Handwerkszentren gebildet, und die Christen hatten begonnen, die Konkurrenz der tüchtigen Ungläubigen zu fürchten und die Handwerkszünfte wie einer Art halbreligiöser Vereinigungen gegründet. Langsam, aber sicher wurden so die Juden aus dem Hand w erk hinausgedrängt und durften nur n och Arbeiten ver r i chten, die e n tweder so schmutzig oder erniedrigend waren, daß niemand anders sie tun wollte, oder so esoterisch und hochspezialisiert, wie Medizin oder Diamantenschleiferei, daß Leute, die diese Künste beherrsc h t en, sehr gefr a gt
Weitere Kostenlose Bücher