Der Diamant des Salomon
Verlassenheit.
Harry stand au f , holte di e Notizbüc h er s e ines V a ters aus dem Aktenkoffer und las noch einmal, was Alfred Hope m an vor vierzig Jahren in Berlin über den Dia m a nten der Inquisition geschrieben hatte:
Steintyp: D i amant. Durchmesser: 4,34 Zenti m eter. Gewicht: 202,94 Karat. F arbe: gelb. Spezifisches Gewicht:
3,52. Härtegrad: 10. Einfachbrechend, Lichtbrechungsindex: 2,43. Kristallarm: Hexak i soktaeder. Dieser Diamant besteht aus zwei zusammengewachsenen Hemiedern.
Bemerkungen : De r Stei n is t vo n gute r Qualität , sein e normer Wert resultiert jedoch vorrangig aus seiner außergewöhnlichen Größe und seiner Geschichte.
Ungeschliffene oktaedrale Diamanten weisen an den Außenflächen so gut w i e immer Streifen und dreieckige Grübchen auf. In diesem Dia m anten, der geschliffen ist, sind solche Grübchen nicht zu entdecken. Seine 72 Facetten sind makellos glatt. Die Proportionen zwischen Kalette und Rondiste sowie zwischen Rondiste und F l ächen sind ausgewogen. Der Stein hat Feuer, aber weder F euer noch di e gelb e Farb e komme n i n seine r gegenwärtige n Briolet t e-Form – einem birnenförmigen Schliff mit sich kreuzenden Bändern kleiner, dreieckiger Facetten – voll zur Geltung. Trotzdem ist der Diamant als frü h es Meisterwe r k, das vor etwa fünfhundert Jahren geschliffen wurde, ein ehrfurchtgebietendes Stück Edelsteingeschichte.
14. Ein Stein für den heiligen Vater
Obwohl das Kind, das im Bauch seiner Frau Anna wie eine Melone heranreifte, sie nur schwerfällig ihren Aufgaben nachkommen ließ, waren doch die Fußböden in Julius Vidals kleinem Haus genauso sauber geschrubbt wie die in den meisten anderen Häusern in Gent, hatte ihr Sohn Isaak immer warme Kleider an, brannte im Kamin jeden Morgen ein munteres Feuer.
»Warum kannst du dich denn nie ausruhen?« fragte Vidal seine Frau mit vor w urfsvollem Unterton.
»Es geht mir gut.« Die Glocke an der Eingangstür klingelte, und A nna verließ die Werkstatt, um zu öffnen.
Vidal seufzte. Der kleine Diamant, der vor ihm auf dem
Tisch lag, w ar an mehreren Stellen mit Tinte markiert. Immer wenn Vidal eine neue Berechnung auf seiner
Schiefertafel durchgeführt hatte, änderte er diese Markierungen wieder. Sein Verstand war nicht der schnellste, er selbst wu ß t e das besser als jeder andere. Obwohl Vidals Verstan d ni c h t schwa c h wa r – de m Her r n se i Dan k dafü r –, so war er d och kei n er von der Sorte, der seinen Bruder Manasseh zum Rabbi und Gelehrten gemacht hatte oder der seinem verstor b enen Onkel L o dewyck, Friede sei s einer Seele, die Geheimnisse des Edelsteinschleifens herausfinden hatte lassen, die der Fa m ilie selb s t jet z t, in d i esen schlimmen Zeiten, noch ein gutes Auskommen bescherten. Handwerklich war Julius Vidal sicher und geschickt; was ihm Schwierigkeiten bereitete, waren die Berechnungen der versc hi edenen Schlifformen, die er oft bis zu einem dutzendmal wiederholen mußte, bis er sicher war, daß sie stimmten.
Anna kam zurück von der Haustür. »Es ist ein Mönch«, sagte sie.
»Ein Benediktiner aus dem Kloster?«
»Ein Dominikaner, Julius.« Anna klang besorgt. »Er sagt, er ko m m e aus Spanien.«
Niemand außer Anna durfte die Werkstatt von Julius betreten, deshalb ging er ins vordere Zimmer, wo der Besucher a m Kamin wartete. »Einen guten Tag wünsche ich Euch. Ich bin Julius Vidal.«
Der Mann, der seinen Namen als Pater Diego angab, überreichte Julius als Geschenk zwei Krüge mit spanischem Wein. In Julius, der sich längst an das warme Braun der Roben hiesiger Mönche gewöhnt hatte, rief das schwarze Habit des Dominikaners unvermitt e lt Erinnerung an vergangene Tage hervor.
»Ich bin v o n weither g ek o mmen, von der Priorei Segovia, um Euch zu sehen. Unser Prior, Pater Tomás, wünscht, daß ihr in seinem Auftrag in León einen Diamanten bearbeitet.«
Julius runz e lte d i e Stir n . »Ist es vielleicht ein Diamant, der dem Grafen De Costa gehört?«
»Der Diamant ist ein Geschenk an die Heili g e Mutt e r Kirche.«
»Von wem?«
Pater Diego schürzte die Lippen. »Von Estebán de Costa, dem Grafen von León. D e r Stein soll ein Geschenk an den Heili ge n Vater in R om sein.«
Vidal nickte, sicherlich wuß t e der Mönch, daß er bereits zweimal vom Grafen De Costa nach Spanien gerufen worden war und zweimal zu kommen abgelehnt hatte.
»Euer Prior erweist mir zuviel der E hre.«
»Nein. Ihr habt bereits einen Diamanten
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