Der Distelfink
ich meine, es tut mir leid, aber ich schwöre, ich wäre nicht so erregt, wenn es nicht so wichtig wäre. Weil ich wirklich, wirklich im Verzug bin. Es ist nur vorübergehend, verstehst du– nur bis der Laden läuft. Denn die ganze Geschichte könnte platzen, einfach so « , Fingerschnippen, » wenn ich nicht langsam anfange, ein paar Kredite abzuzahlen. Und den Rest– den werde ich benutzen, um dich auf eine bessere Schule zu schicken. Eine Privatschule vielleicht. Das fändest du doch gut, oder? «
Von seinem eigenen Vortrag mitgerissen, wählte er bereits die Nummer. Er gab mir das Telefon und rannte los, bevor jemand antwortete, um am Zweitanschluss auf der anderen Seite des Wohnzimmers mitzuhören.
» Hallo « , sagte ich zu der Frau, die sich meldete, » ähm, Verzeihung… « Meine Stimme war kratzig und unsicher, ich konnte nicht recht glauben, was geschah. » Kann ich bitte Mr. ähm… «
Mein Vater stieß auf der anderen Seite des Zimmers mit dem Finger auf den Zettel: Bracegirdle.
» Mr., ähm, Bracegirdle sprechen « , sagte ich laut.
» Und wen darf ich melden? « Sowohl meine als auch ihre Stimme klangen viel zu laut, was daran lag, dass mein Dad auf dem anderen Anschluss mithörte.
» Theodore Decker. «
» Oh, ja « , sagte die Stimme eines Mannes, als er am anderen Ende abnahm. » Hallo! Theodore! Wie geht es dir? «
» Gut. «
» Du klingst, als hättest du eine Erkältung. Sag, bist du ein wenig erkältet? «
» Ähm, ja « , sagte ich unsicher. Aus der Ferne formulierte mein Vater mit übertriebenen Lippenbewegungen stumm das Wort Kehlkopfentzündung.
» Wie bedauerlich « , sagte die hallende Stimme– so laut, dass ich den Hörer ein Stück vom Ohr weghalten musste. » Man denkt nie, dass Leute sich in der Sonne, wo du bist, erkälten können. Ich bin auf jeden Fall froh, dass du anrufst– ich hatte keine gute Möglichkeit, direkt mit dir Kontakt aufzunehmen. Ich weiß, es ist wahrscheinlich immer noch sehr schwer für dich. Aber ich hoffe, besser als bei unserem letzten Treffen. «
Ich schwieg. Ich hatte diese Person getroffen?
» Es war eine üble Zeit « , sagte Mr. Bracegirdle, der mein Schweigen richtig deutete.
Die fließende samtige Stimme schlug einen Akkord in mir an. » Okay, wow « , sagte ich.
» Der Schneesturm, erinnerst du dich? «
» Stimmt. « Er war etwa eine Woche nach dem Tod meiner Mutter aufgetaucht: ein ältlicher Mann mit vollem weißen Haar– elegant gekleidet, gestreiftes Hemd, Fliege. Er und Mrs. Barbour kannten sich offenbar, jedenfalls schien er sie zu kennen. Er hatte mir gegenüber auf dem Sessel, der dem Sofa am nächsten stand, Platz genommen und viel geredet, verwirrende Dinge, obwohl das Einzige, was wirklich bei mir hängenblieb, die Geschichte war, wie er meine Mutter kennengelernt hatte: ein gigantischer Schneesturm, kein Taxi in Sicht, als– angekündigt von einer Ladung feuchten Schnees– ein besetztes Taxi um die Ecke 84th Street und Park Avenue kam. Das Fenster wurde heruntergekurbelt– meine Mutter ( » eine Vision der Schönheit « ) fuhr bis zur East 75th Street, ob er auch in die Richtung wolle?
» Sie hat immer von diesem Sturm gesprochen « , sagte ich. Mein Vater sah mich– den Hörer am Ohr– scharf an. » Und davon, dass die Stadt damals komplett lahmgelegt war. «
Er lachte. » Was für eine hinreißende junge Dame! Ich kam von einer späten Besprechung– mit einer älteren Treuhänderin an der Park Avenue, Ecke 92nd Street, eine Reederei-Erbin, inzwischen leider verstorben. Jedenfalls kam ich aus dem Penthouse auf die Straße– beladen mit meinem schweren Aktenkoffer natürlich–, und es waren etwa dreißig Zentimeter Schnee gefallen. Vollkommene Stille. Kinder zogen Schlitten über die Park Avenue. Nördlich der 72nd Street fuhren keine U-Bahnen mehr, also stapfte ich durch den knietiefen Schnee, als plötzlich ein Yellow Cab mit deiner Mutter darin vorbeikam! Und knirschend bremste. Als wäre sie von einer Suchmannschaft geschickt worden. › Steigen Sie ein, ich nehme Sie mit. ‹ Midtown Manhattan war völlig menschenleer… Schneeflocken tanzten, alle Lichter der Stadt brannten. Und wir glitten mit knapp fünf Stundenkilometern dahin– wir hätten auch auf einem Schlitten sitzen können–, überfuhren rote Ampeln, weil es sinnlos war anzuhalten. Ich weiß noch, dass wir uns über Fairfield Potter unterhalten haben– in New York war gerade eine Ausstellung zu Ende gegangen– und dann über Frank O’Hara
Weitere Kostenlose Bücher