Der Distelfink
weil sie flach ausgebreitet auf der Matratze zu sehr aussah wie eine Tote. » Was ist mit ihr? «
» Was, verdammt noch mal? « , sagte ich nach einer Pause. » Was sollen wir denn machen? Warten, bis sie aufwacht und feststellt, dass wir sie abgezockt haben? «
» Weiß nicht. « Boris musterte sie skeptisch. » Sie tut mir nur leid. «
» Also mir nicht. Sie will mich nicht. Sie wird sie anrufen, sobald sie kapiert, dass sie mich am Bein hat. «
» Sie? Ich verstehe nicht, wer ist diese sie. «
» Boris, ich bin minderjährig. « Ich spürte, wie meine Panik auf allzu vertraute Weise anschwoll– vielleicht ging es in der Situation nicht buchstäblich um Leben und Tod, doch es fühlte sich auf jeden Fall so an, ein Haus, in dem sich Rauch ausbreitete und alle Ausgänge versperrt wurden. » Ich weiß nicht, wie das in deinem Land funktioniert, aber ich habe keine Familie, keine Freunde hier… «
» Mich! Du hast mich! «
» Was willst du denn machen? Mich adoptieren? « Ich stand auf. » Hör zu, wenn du mitkommst, müssen wir uns beeilen. Hast du deinen Pass? Den brauchst du für den Flug. «
Boris hob nach russischer Manier die Hände zu einer Mir reicht’s jetzt schon -Geste. » Warte! Das geht alles viel zu schnell. «
Ich blieb auf halbem Weg zur Tür stehen. » Scheiße, was ist dein Problem? «
» Mein Problem? «
» Du wolltest abhauen! Du warst derjenige, der mich gefragt hat, ob ich mitkomme! Gestern Nacht! «
» Wohin willst du? Nach New York? «
» Wohin denn sonst? «
» Ich will irgendwohin, wo es warm ist « , sagte er sofort. » Kalifornien. «
» Das ist verrückt! Wen kennen wir… «
» Kalifornien! « , krähte er.
» Also gut. « Auch wenn ich fast nichts über Kalifornien wusste, konnte man sicher davon ausgehen, dass Boris (abgesehen von den Takten von » California Über Alles « , die er summte) noch weniger wusste. » Wohin in Kalifornien? Welche Stadt? «
» Wen interessiert’s? «
» Es ist ein großer Staat. «
» Fantastisch! Das wird ein Spaß! Wir bleiben ununterbrochen high– lesen Bücher– machen Lagerfeuer. Schlafen am Strand. «
Einen langen unerträglichen Moment sah ich ihn an. Sein Gesicht loderte, und sein Mund war schwarz von dem Rotwein.
» Also gut « , wiederholte ich– in vollem Bewusstsein, dass ich von einer Klippe in den größten Fehler meines Lebens sprang, Kleindiebstahl, mit einem Pappbecher auf dem Bürgersteig betteln, Obdachlosigkeit und auf der Straße schlafen, der Absturz, von dem ich mich nie wieder erholen würde.
Er war ausgelassen. » Also der Strand? Ja? «
So kam man vom rechten Weg ab: so schnell. » Wohin du willst. « Ich strich mir eine Strähne aus den Augen, todmüde. » Aber wir müssen sofort aufbrechen. Bitte. «
» Was, in dieser Minute? «
» Ja. Musst du noch mal nach Hause und irgendwas holen? «
» Heute Nacht? «
» Ich meine es ernst, Boris. « Mit ihm zu diskutieren, ließ meine Panik wieder ansteigen. » Ich kann nicht bloß hier rumsitzen und warten… « Das Gemälde war ein Problem, ich war mir nicht sicher, wie das funktionieren sollte, aber wenn ich Boris erst mal aus dem Haus hatte, konnte ich mir irgendwas überlegen. » Bitte, mach hin. «
» Ist staatliche Fürsorge in USA so schlimm? « , fragte Boris skeptisch. » Bei dir klingt wie die Bullen. «
» Kommst du mit? Ja oder nein? «
» Ich brauche noch Zeit « , sagte er und folgte mir, » wir können nicht sofort aufbrechen! Wirklich– ich schwöre. Warte noch ein bisschen. Gib mir einen Tag! Einen Tag! «
» Warum? «
Er schien perplex. » Na ja, ich meine, weil… «
» Weil? «
» Weil– ich Kotku treffen muss! Und– alles Mögliche! Ehrlich, du kannst nicht heute Nacht aufbrechen « , wiederholte er und dann, als ich nichts sagte: » Glaub mir. Es wird dir leidtun, ehrlich. Komm mit zu mir! Warte noch bis morgen! «
» Ich kann nicht warten « , erwiderte ich knapp, nahm meine Hälfte des Geldes und ging zurück zu meinem Zimmer.
» Potter… « Er kam mir nach.
» Ja? «
» Ich muss dir etwas Wichtiges sagen. «
» Boris « , ich drehte mich um, » was verdammt noch mal? Was ist denn? « Wir waren stehen geblieben und starrten uns an. » Wenn du etwas zu sagen hast, dann sag es, los. «
» Ich habe Angst, du wirst wütend. «
» Was ist los? Was hast du getan? «
Boris blieb stumm und kaute an seinem Daumennagel.
» Also was? «
Er wandte den Blick ab. » Du musst bleiben « , sagte er vage. » Du machst einen
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