Der Domino-Killer
Die Zeit zerfiel in Scherben, Erinnerungen rasten vorbei, hielten an oder verschwanden wieder, als würde ein Wahnsinniger eine Theaterbühne hin und her drehen. Und ich, gefangen in diesem Albtraum, rannte und rannte vorwärts und fiel doch zurück. Ich wurde von einem Zeitloch geschluckt, steckte im Treibsand fest und konnte mich nicht daraus befreien. Ihre Gesichter rasten durch mich hindurch, an mir vorbei: Cece, Jackson und die Aldermans, die ich nur von den Fotografien des Tatorts kannte. Ich sah ständig die Bilder vor mir, die ich während meiner Zeit bei der Sonderkommision so genau studiert und mir eingeprägt hatte, damals, als wir zum ersten Mal versucht hatten, JPP zu erwischen. Jetzt überfluteten sie mich.
Fünf Morde waren es gewesen, vier Tatorte, und der Polizeifotograf hatte jeden Fundort der Leichen aus allen Perspektiven genauestens festgehalten. Jeden Blutspritzer hatte die Kamera eingefangen, alles war gemessen und markiert worden, und wenn eine Blutlache nicht ganz aufs Bild passte, hatte man mehrere Aufnahmen gemacht, um sie später aneinanderlegen zu können. Jeder Fingerabdruck, jeder Fußabdruck, jedes Haar, jede Stofffaser waren gesammelt, zusammengetragen und dokumentiert worden. Wenn auf dem Tresen ein Glas gestanden hatte, wurde es in eine Plastiktüte gesteckt. Wenn ein Taschentuch auf dem Boden lag, wurde es in eine Plastiktüte gesteckt. Wenn ein abgerissener Knopf herumlag, wurde er in eine Plastiktüte gesteckt. Seltsamerweise ähnelten diese eigenartigen Schätze der Forensiker nicht selten denen, die Serienmörder selbst sammelten, um sich an ihre Taten zu erinnern und sie zu katalogisieren. Ich hatte einmal gehört, wie ein Detective meinte: «Diese Psychos stellen ihre Sammlung auf dem Weg nach drinnen zusammen und wir auf dem Weg nach draußen.» Das war zwar eine kalte zynische Bemerkung, aber sie stimmte. Irgendwann begann man so zu denken wie der Mistkerl, hinter dem man her war. Es war widerlich. Aber es stand zu befürchten, dass er sich andernfalls nie erwischen ließ.
Die Arbeit am Fall der Aldermans war meine erste Bekanntschaft mit den Gräueltaten eines kranken Hirns gewesen. Den Fall Jackson und Cece Schaeffer als Betroffene zu erleben, war meine zweite. Und der Anschlag auf mein eigenes Leben vor einer Woche nun die dritte. Und jedes Mal drang ich in dunklere Tiefen dieses Wahnsinns vor, wenn ich eigentlich geglaubt hatte, es könnte nicht schlimmer werden. Inzwischen sehnte ich mich fast danach, wie unschuldig ich an den Fall der Aldermans herangegangen war. Nein. Ich sehnte mich nach der Zeit davor, bevor meine berufliche Entwicklung mir einen exklusiven Platz in der schlimmsten Vorstellung bescherte, die die Menschheit zu bieten hatte.
Wieso war ich überhaupt zur Polizei gegangen? In letzter Zeit hatte ich mich das oft gefragt. Um einen Wunsch meines Vaters zu erfüllen, war vermutlich die einfachste Antwort. Er war Offizier gewesen, eine Naturgewalt, und ich hatte ihn während meiner Kindheit und Jugend vergöttert. Als er die Armee im Alter von achtunddreißig verließ, wurde er Polizist und später Detective. Er hatte kein Geheimnis daraus gemacht, dass er hoffte, Jon würde in seine Fußstapfen treten. Aber als der sein Glück in Hollywood versuchte, entschied ich mich, zur großen und letzten Hoffnung meines geliebten Vaters zu werden. Also trat ich auf der High School der Jugendorganisation der Reserveoffiziere bei und ging dann zur Armee. Als meine Zeit dort vorbei war und ich überlegte, ob ich studieren sollte, passierten die Anschläge vom elften September. Ich verwarf meine akademischen Pläne und bewarb mich gleich am nächsten Tag an der Police Academy. Ein Jahr danach fuhr ich Streife. Sechs Jahre später stieg ich zum Detective auf. Und noch ein Jahr darauf waren Jackson und Cece tot. Heute wusste mein Vater oft nicht einmal, welchen Tag wir gerade hatten, geschweige denn wie aufopfernd ich ihm nachgeeifert hatte.
Warum also war ich Polizistin geworden? Damals war es mir einfach richtig erschienen. Und das hatte auch noch für eine ganze Weile angehalten. Die Arbeit machte mir Spaß, die Aufregung, der Adrenalinschub, wenn man blitzschnell Entscheidungen treffen musste. Ja, der Job beflügelte mich manchmal richtig. Ich wusste noch, wie ich mich gefreut hatte, als man mich zum Fall Alderman hinzuzog. Wie sehr ich mir gewünscht hatte, diejenige zu sein, die ihn löste. Nie im Leben hätte ich allerdings gedacht, dass mir das – wenn
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