Der Domino-Killer
Lippen. Ich ließ das Fläschchen mit den Pillen in meine Handtasche fallen. Es war vollbracht. Ich hatte die Tablette genommen. Hielt mein Versprechen. Versuchte es jedenfalls.
«So ist’s brav.» Er zwinkerte. Dann hielt er mir beim Hinausgehen die Tür auf, und wir befanden uns wieder auf der Simon Street. Draußen stand ein junger Angestellter der Apotheke und entfernte mit irgendeiner Maschine Kaugummireste vom Bürgersteig. Die platten, angetrockneten Klumpen klebten überall.
«Eine Sisyphusarbeit», bemerkte Mac, als wir an dem Mann vorbeigingen, der den Kopf schüttelte und seufzte, während er die Maschine erneut auf dem Beton ansetzte.
Wir gingen die Smith Street hinunter und bogen dann in die Pacific Street ein, wo ich zwei Blocks weiter zwischen Hoyt und Bond Street wohnte.
«Soll ich morgen Abend wiederkommen?», fragte Mac. «Und dich dann am Mittwoch zur Therapie in die City bringen?»
«Nein, danke, das musst du nicht. Das schaffe ich schon.» Ich brauchte keine Eskorte, trotzdem war ich ihm insgeheim dankbar für das Angebot.
«Sag Bescheid, falls du es dir doch anders überlegst.»
Sein Auto stand gegenüber von einer Schule, noch einen Block von meiner Wohnung entfernt. Ich blieb stehen, was ihn wohl überraschte.
«Ich komme noch mit bis zu dir.»
«Das musst du nicht, Mac. Ich bin dir wirklich dankbar für alles, was du für mich tust. Aber ab und zu sollte ich auch mal ein paar Schritte allein machen dürfen.»
«Nein, nicht im Moment.»
«Ehrlich, ich kann ihn nicht mehr fühlen da draußen. Ich glaube nicht einmal, dass er noch in dieser Welt weilt. Ernsthaft. Ich habe einfach keine Angst mehr.»
Mac zog eine Augenbraue hoch. «Okay. Aber versprich mir wenigstens, dass du mich sofort anrufst, wenn du drinnen bist?»
Das tat ich. Wir standen vor seinem Auto und überlegten, wie wir uns nun am besten verabschieden sollten. Endlich klopfte ich ihm auf die Schulter, so wie Männer es untereinander tun. Eine kurze Berührung, vielleicht fast ein kleiner Knuff. Aber ich war eben kein Mann, und zwischen uns existierte plötzlich eine gewisse Anspannung, etwas, das anders und neu war. Er klopfte mir ebenfalls auf die Schulter. Dann schloss er die Wagentür auf und stieg ein.
Ich sah ihm zu, wie er ausparkte und die Pacific Street in Richtung der Autobahn entlangfuhr, die ihn zurück nach New Jersey bringen würde. Allein der Gedanke daran, dass er an den Ort zurückkehrte, an dem ich einmal zu Hause gewesen war, ein sinnvolles Leben geführt hatte und geliebt worden war, tat mir sehr weh. Ich wäre auch lieber dort gewesen, bei den Menschen, die ich liebte. Meinen Eltern. Andrea und Susanna. Und bei Jon, wenn er aus L. A. zurückkehrte. Aber alles in Maplewood und Montclair erinnerte mich an Jackson und Cece. Das ertrug ich einfach nicht. Ich musste hierbleiben, zumindest räumlich weit weg von der ewigen Tortur der Erinnerungen.
Jetzt lag ein ganzer Tag vor mir. Ein ganzes Leben. Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre, in denen ich mich ablenken musste von der Qual, die meine Seele auffraß. Im Augenblick kam es mir so vor, als wäre das für mich eine unüberwindliche Herausforderung. Selbst mit der kleinen Tablette, die sich in meinem Magen auflöste und in meine Blutbahn drang, um meine Traurigkeit aufzuhellen. Die Schönwetter-Chemie, von der Joyce hoffte, dass sie meine dunkle Wolke vertrieb.
Ich kaufte ein paar Sachen ein und verbrachte den Rest des Tages damit, in meinem Garten Unkraut zu jäten und die Pflanzen wiederzubeleben, die noch nicht vertrocknet waren. Nach einem leichten Abendessen las ich ein wenig im Bett. Schlief früh ein. Stand erst spät wieder auf. Am Morgen war ich so erschlagen von dem ganzen Schlaf, dass ich beim Frühstück kaum die Augen offen halten konnte. Ich nahm meine zweiten vierzig Milligramm Prozac und überlegte, ob darin vielleicht ein Schlafmittel enthalten war.
Und dann wurde ich plötzlich hellwach. Ich konnte gar nicht mehr still sitzen.
Ich wusch mein Schüsselchen ab, das Glas und den Becher. Duschte schnell. Zog eine Jeans und ein T-Shirt an. Und beschloss, statt in der Wohnung vor mich hin zu brüten, irgendetwas zu unternehmen. Aber noch bevor ich dazu kam, mir zu überlegen, was eine dreiunddreißig Jahre alte selbstmordgefährdete Ex-Polizistin aus New Jersey an einem Wochentag allein in New York anfangen sollte, rief Skype nach mir.
Seit einem Jahr hatte ich diesen Klingelton nicht mehr gehört; niemand versuchte, mich
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