Der Domino-Killer
also aufgefallen», ohne direkt auf meine Frage einzugehen. Sie trug keinen Ehering, aber ich wusste, dass sie nicht allein in ihrer Wohnung lebte, weil ich hinter der geschlossenen Tür oft jemanden kommen und gehen gehört hatte.
Ich antwortete nicht. Brachte es nicht fertig. Sie wusste es ohnehin.
«Ich habe darüber nachgedacht», sagte sie, «was dir wohl den Impuls dazu gegeben hat, in deiner Wohnung zu bleiben, obwohl du wusstest, dass er wahrscheinlich dorthin kommt.»
Mir fiel auf, wie sie das formulierte. Sie sprach von einem Impuls , nicht von einer Entscheidung, sagte wahrscheinlich und nicht mit Sicherheit .
Ich zuckte die Schultern. Legte die Füße auf den Couchtisch, umschloss die gebeugten Knie mit den Händen, betrachtete meine trocken aussehende Haut.
«Manchmal, wenn ich zu Hause allein bin, trage ich noch immer meinen Ehering», sagte ich und starrte auf meine unberingten gespreizten Finger auf den Knien.
«Aber natürlich», sagte sie. «Ich würde das in deiner Situation auch tun. Trotzdem, Karin …»
«Nicht, Joyce, bitte. Erklär es mir nicht. Ich weiß schon, was das bedeutet.»
«Okay, und was bedeutet es?»
Das Hupen eines Autos. Lang und laut; ein genervter Fahrer draußen auf den Straßen der Stadt. Joyce wohnte und arbeitete in einer Wohnung im ersten Stock. Das einzige Fenster im Zimmer war geöffnet, um die frische Frühlingsluft hereinzulassen, aber gleichzeitig ließ es auch den ganzen Lärm herein. Während all der Zeit, die ich in den letzten Monaten auf dieser Couch verbracht hatte, hatte ich Kinder jammern und Pärchen streiten hören, hatte Verabredungen zum Abendessen und Unterhaltungen über das Wetter belauscht.
«Es bedeutet, dass ich nicht loslassen kann.»
«So denkst du darüber?» Joyce lächelte freundlich. «Dass du loslassen musst?»
So wie Joyce meine Worte betonte, erschienen sie mir jetzt kleingeistig.
«Vielleicht kannst du stattdessen lernen, mit deinen Gefühlen zu leben. Wenn du angestrengt versuchst sie loszulassen, so wie einen Ballon, dem du nachschaust, bis er am Himmel verschwunden ist, dann wirst du scheitern. Oder?»
«Ja.»
«Ich glaube nicht, dass irgendjemand erwartet, dass du deine Gefühle und Erinnerungen loslässt.»
«Das werde ich auch nie tun. Eigentlich meinte ich das auch nicht. Mir ging es darum, dass die Gefühle nicht aufhören.»
«Der Schmerz», korrigierte sie mich.
«Er ist immer da, und oft genug fühle ich mich, als würde ich darin ertrinken. Und ich will, dass er aufhört.»
«Es ist schwer zu ertragen.»
«Sehr schwer.»
«Als du beschlossen hast, an jenem Tag in deiner Wohnung zu bleiben, hast du also auch noch eine andere Entscheidung getroffen.»
Ich schaute sie an. Es war kein großes Geheimnis, was mich dazu gebracht hatte. Musste ich es da noch extra aussprechen?
«Karin?»
«Willst du das wirklich von mir hören?»
«Warum denn nicht?»
«Weil ich es eigentlich nicht sagen will.»
«Hast du es schon mal jemandem gesagt?»
«Es wissen doch ohnehin alle. Das war doch alles so offensichtlich.»
«Dann sag es.»
«Ich wollte, dass er mich tötet. Ich wollte sterben.» Ich hielt inne. Atmete ein und aus. «So, bitte, jetzt habe ich es gesagt.»
«Und dann hast du dich gegen ihn gewehrt, weil …?»
«Ich habe begriffen, dass er noch einen ganz anderen Plan hat, und bekam schreckliche Angst um meine Familie. Und deshalb habe ich es mir anders überlegt.»
«Und jetzt?»
Ich wendete mühsam den Blick von ihr ab. Schaute mich im Büro um. Weiße Wände. Ein gerahmtes Museumsplakat für ein Rauschenberg-Happening. Regale voller Bücher. Kleine Andenken von ihren Reisen, zu denen ein neues hinzugekommen war: eine winzige chinesische Strohpuppe mit Sonnenschirmchen in der Hand. In der Zimmerecke auf dem Boden ein ordentlicher Stapel alter Zeitschriften, die mit einer Schnur zusammengebunden waren und ins Altpapier wandern sollten. Nur mit Mühe hielt ich der Versuchung stand, auf die Uhr zu schauen, in der Hoffnung, dass die Stunde bereits um sein möge.
«Eigentlich möchte ich darüber nicht sprechen», sagte ich.
«Weil dir das sonst zu viel Energie raubt, um den unerträglichen Schmerz zu beenden.»
«Vielleicht.»
«Karin, ich glaube, wir sind an einem Punkt, an dem wir noch einmal über Medikamente reden sollten.»
Das hatte sie mir schon einmal vorgeschlagen, vor drei Monaten, aber ich hatte es abgelehnt. Pillen waren mir wie ein billiger Fluchtweg vorgekommen – ein Einwand, der mir
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