Der Domino-Killer
von mir wünschte sich, dass er zurückkam und es noch einmal versuchte. Der andere Teil, der Teil, der ihn ins Jenseits wünschte, wollte auch die Zeit zurückdrehen und ihn auslöschen, bevor er meinen Mann und mein Kind auslöschen könnte … und das war schlicht unmöglich.
Falls er jetzt tot war, war er mir nicht tot genug.
Bevor ich endlich einschlief, dachte ich an Joyce und unsere nächste Sitzung am frühen Morgen. Sie würde ihre helle Freude an mir haben – bei der Vorstellung musste ich etwas lächeln, was die anderen Gedanken vorübergehend aus meinem Kopf vertrieb und mir einen erlösenden Weg aus der ständigen Grübelei eröffnete. Mir ermöglichte, dem Bewusstsein zu entfliehen. Und in einen kurzen, unruhigen Schlaf zu fallen.
«Und dann bin ich im Dunkeln den Hügel ganz hinaufgestiegen. Es war eine Dunkelheit, durch die man hindurchsehen konnte. Silbrig irgendwie. Plötzlich ging es schlingernd auf und ab, und der Hügel hat sich in so eine Art Achterbahn verwandelt, würde ich sagen. So fühlte sich das für mich an, immer hoch, runter, im Kreis, zu schnell, aufregend, bedrohlich, aber eigentlich war es keine richtige Achterbahn. Und dann saß ich im Schneidersitz am Kopf einer langen Treppe, und unten hat sich die Eingangstür geöffnet, ich war wohl in einem Haus. Und dann bist du hereingekommen. Ich habe oben auf der Treppe auf dich gewartet, und du kamst so schnell auf mich zugeflogen, dass die Zeit zu schmelzen schien. Du hast gut gerochen. Das ist das Letzte, woran ich mich erinnere. An deinen Geruch, es war ein Parfüm und doch kein Parfüm. Einfach nur du.»
Jacksons Worte verfolgten mich; er hatte mir kurz vor unserer Verlobung von dem Traum erzählt. Ich wusste sofort, was er bedeutete. Dass wir zusammengehörten. Glücklich waren. Angekommen bei einander. Der Beginn unseres gemeinsamen Lebens. Ab dem Moment war mir klar, dass wir zusammenbleiben würden. Oberflächlich betrachtet war es ein wirrer Traum, und trotzdem war seine Bedeutung ganz eindeutig. Und er hatte ihn mir anvertraut, was mir genauso viel bedeutete wie die Rolle, die ich darin spielte.
Ich erwachte am Morgen vor meiner Sitzung mit Joyce und hatte wieder Jacksons Traum geträumt. Hatte kurz vergessen, dass es Jackson nicht mehr gab. In diesem wunderbaren kurzen Moment erwartete ich, ihn neben mir in unserem Bett zu erblicken, sobald ich die Augen öffnete. Doch dann folgte das schreckliche Erwachen, und alles fiel mir wieder ein.
Und jetzt, während ich auf Joyce’ Couch saß, erzählte ich ihr schon wieder von dem Traum, zum dritten oder vierten Mal, seit ich bei ihr in Therapie war. Sie hatte gesagt, dass ich ihn immer wieder erzählen könnte; dass ich es jedes Mal tun sollte, wenn ich ihn geträumt hatte. Sie meinte, dass der Traum mit der Zeit seine Kraft verlieren und schließlich verschwinden würde. Aber er verlor seine Kraft nicht, und ich konnte nicht aufhören zu weinen.
Sie saß mir gegenüber, zurückgelehnt auf ihrem braunen Ledersessel, die Hände im Schoß gefaltet. Lauschte erneut der Erzählung des nachgeträumten Traums eines Toten. Sah zu, wie ich weinte. Ließ mich weinen, ohne dass es ihr unangenehm gewesen wäre. Auf dem Couchtisch zwischen uns lag eine Packung mit Taschentüchern, aus der ich mich großzügig bediente.
«Alle tun ihr Bestes, um mich wieder glücklich zu machen. Und ich will auch dankbar sein, aber in Wahrheit fühle ich gar nichts, und mir wäre es am liebsten, wenn sie mich allein lassen würden.»
«Allein», wiederholte Joyce, «damit du …?»
Ich holte Luft. Schüttelte den Kopf und wendete den Blick ab. «Damit ich allein sein kann.»
«Wie, allein?»
«Allein mit mir. Damit ich meinen Gefühlen freien Lauf lassen kann, ganz ohne schlechtes Gewissen.»
«Und?»
Sie neigte den Kopf nach vorn und wartete. In China waren ihre schulterlangen braunen Haare nachgewachsen, was der graue Ansatz am Mittelscheitel erkennen ließ. Während sie mir Zeit gab zu antworten, nahm sie einen Schluck Kaffee aus einem roten Keramikbecher und stellte ihn dann auf einem kleinen Tisch rechts neben ihr ab. Darauf befand sich auch eine Ausgabe des Buchs, das sie mir geschenkt hatte. In der Mitte durchtrennte Post-its schauten an manchen Stellen zwischen den Seiten hervor. Auf dem Buch lag der mit Brillanten und Saphiren besetzte Ring, den sie während unserer Sitzungen immer abnahm. Ich hatte sie einmal danach gefragt, und sie hatte gelächelt und nur gesagt: «Das ist dir
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