Der Domino-Killer
zusammengeknüllte Papier auf, glättete es und gab es mir.
Und dann verschwand er.
Ich konnte es nicht fassen.
Sobald er fort war, fragte ich am Empfangsschalter nach einem Busfahrplan. Wie ich herausfand, war der letzte Bus nach New York eine Stunde zuvor gefahren. Es war Sonntag, und ich befand mich mitten auf dem Land. Um diese Zeit wurden hier schon die Bürgersteige hochgeklappt. Ich würde also bis zum nächsten Morgen bleiben müssen, bevor ich abreisen konnte. Ich studierte eine Anschlagtafel, auf der verschiedene Aktivitäten und die Uhrzeiten für die einzelnen Mahlzeiten angezeigt wurden. Auf meinem Anmeldeformular fand ich meine Zimmernummer.
Es war ein Viererzimmer mit Etagenbetten – das hatten sie wohl extra für mich ausgesucht, nicht um Geld zu sparen, sondern damit ich nicht allein blieb. Ich stellte meinen Koffer neben dem nächsten unteren Bett ab und suchte dann nach dem Bad. Es war eine Gemeinschaftsdusche neben dem Aufenthaltsraum. Das Zimmer für Joyce’ Workshop, der sogenannte Sunset Room, befand sich ebenfalls dort in der Nähe.
Wütend legte ich mich auf mein Bett. Fand keine Ruhe. Ignorierte meine Zimmernachbarn, als sie hereinkamen. Schwänzte das Abendessen und die anschließende erste Sitzung des Workshops. Eigentlich hatte ich erwartet, dass Joyce kommen würde, um mir Vorhaltungen zu machen; als sie es nicht tat, war ich ein bisschen enttäuscht. Ich führte mich auf wie ein schmollendes Kleinkind, weil ich nicht darüber hinwegkam, dass sie und Jon – und Mac wahrscheinlich auch … möglicherweise sogar meine Eltern – sich hinter meinem Rücken abgesprochen und diese Geschichte eingefädelt hatten. Mir war natürlich nicht entgangen, dass alle voller Sorge beobachteten, wie ich ohne die Medikamente wieder in meine Depression abrutschte. Und dass sie gemeinsam überlegten, wie sie mich aus diesem Loch herausholen sollten. Dass sie Angst um mich hatten, konnte ich ihnen nicht vorwerfen; wenn ich darüber nachdachte, musste ich ihnen eigentlich sogar dankbar dafür sein, sagte ich mir. Am nächsten Morgen war meine Wut fast vollständig verraucht. Ich erwachte mit einem großen Hunger.
Beim Frühstück in der Cafeteria – einem großen sonnendurchfluteten Raum voller Vollkorngetreide, frischem Obst und müden, aber freundlichen Gesichtern – entdeckte ich Joyce. Sie stand bei der Essensausgabe an und trug schwarze Yogahosen, grüne Flipflops und eine bestickte dunkelviolette Tunika über einem weißen Hemdchen und balancierte mit einer Hand ihr Tablett, während sie sich mit der anderen einen Muffin vom Buffet nahm.
«Die Apfel-Walnuss-Muffins sind lecker.» Ich stellte mich hinter sie.
Sie schaute mich über die Schulter hinweg an. Lächelte. «Okay.»
«Wie wäre es mit einer Entschuldigung?»
«Wofür? Du wirkst viel entspannter als bei unserem letzten Treffen.»
Das stimmte. Ich hatte gut geschlafen, was ich der gesunden Bergluft zuschrieb. Joyce hatte wirklich Nerven, so zu tun, als wäre das ihr Verdienst.
«Nach dem Frühstück fahre ich wieder.»
«Darf ich mich dann vorher noch zu dir setzen?»
Ich ging zurück an meinen Tisch und wartete. Beobachtete sie dabei, wie sie sich ein paar Scheiben vegetarischen Bacon auf einen kleinen Teller legte, eine Schüssel mit Naturjoghurt dazustellte und einen Becher Pfefferminztee einschenkte. Sie trug das Tablett durch den Speiseraum und lächelte den vielen Menschen zu, die sie grüßten.
«Du scheinst hier ja jeden zu kennen», sagte ich, während sie das Tablett abstellte und mir gegenüber Platz nahm. Wir saßen ganz alleine an diesem Ende des langen Tischs.
«Ich komme schon seit Jahren hierher, seit meine Zwillinge gestorben sind.»
Das brachte mich zum Schweigen.
«Ein Autounfall», erklärte sie. «Vor elf Jahren, als die beiden auf der Uni waren.»
Ich starrte sie an, sprachlos. Sie hatte niemals auch nur angedeutet, dass sie Kinder gehabt und auch selbst einen so schrecklichen Verlust erlebt hatte wie den, den ich jede Woche auf ihrer Couch erneut durchlitt.
«Das hätte ich dir wahrscheinlich nicht sagen dürfen.» Sie schaute mich so offen an, dass ich den Blick nicht abwenden konnte. «Aber nach deiner Begrüßung eben … na ja, ich dachte, es hilft dir vielleicht, wenn du weißt, dass es jemanden gibt, der wirklich versteht, was du durchmachst.»
«Es tut mir so leid.»
«Nicht doch, Karin. Wichtig ist einfach, dass wir jetzt hier sind. In diesem Moment. Mehr können wir alle nicht tun.»
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