Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Domino-Killer

Der Domino-Killer

Titel: Der Domino-Killer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Pepper
Vom Netzwerk:
Sie beugte sich über den Tisch und griff nach meiner Hand. Starrte mir direkt in die Augen. « Es ist vorbei .»
    «Es wird nie vorbei sein.»
    «Aber er sitzt jetzt wenigstens im Gefängnis.»
    «Da ist er schon einmal ausgebrochen.»
    «Glaubst du wirklich, dass die Behörden es je wieder dazu kommen lassen?» Sie schüttelte den Kopf so entschieden, dass das Haar ihres Pagenkopfes ihr übers Kinn fiel. «Ganz bestimmt nicht.»
    «Es ist nur –»
    «Nein.» Sie drückte meine Hand noch fester. «Du musst einen Weg zurück ins Leben finden. Es wird Zeit.»
    Wie versteinert saß ich da bei dem Gedanken, loszulassen und weiterzuleben , was ich so lange einfach für unmöglich gehalten hatte. Ich sah in ihre hellbraunen Augen und bemerkte zum ersten Mal die grünen und gelben Sprenkel darin.
    «Du schaffst das. Du musst es schaffen. Wir gehen da zusammen durch. Du musst ja nicht an meinem Workshop oder am Yogaunterricht teilnehmen. Man kann hier auch so viele andere Sachen machen. Oder auch einfach gar nichts – es gibt kilometerlange Wanderwege, einen See und ein nettes Städtchen ganz in der Nähe. Bleib wenigstens ein paar Tage hier und warte ab, okay?»
    «Mal sehen.»
    «Überleg es dir gut.»
    «Mache ich.» Tatsächlich hatte sie mich längst so weit. Joyce war wirklich gut und ihr Timing perfekt. Sie wusste genau, wann und wie sie ihr psychologisches Werkzeug einzusetzen hatte.
    «Ob nun mit oder ohne Medikamente, du wirst lernen müssen, wie du dich an die geliebten Menschen mit dem Abstand zurückerinnern kannst, den das Schicksal dir aufgezwungen hat. Und du musst dir dafür vergeben, dass du noch am Leben bist.»
    «Aber was, wenn ich doch wieder Tabletten brauche?»
    «Das warten wir erst einmal ab. Vor dieser Tragödie brauchtest du sie nicht, deshalb halte ich deinen momentanen Zustand auch nicht für eine klinische Depression. Außerdem könnte es sein, dass in deinem Fall Antidepressiva ungeeignet sind.»
    «Das klingt alles sehr ungewiss.»
    Sie lächelte. «Stimmt.»
    Also blieb ich und sagte mir, dass es nur für ein oder zwei Tage sein würde. Tatsächlich nahm ich, wie Joyce vorgeschlagen hatte, nicht an ihrem Workshop oder dem Yogaunterricht teil. Während der ersten beiden Tage war ich draußen im Park, unternahm Spaziergänge, saß allein mit einem Buch auf einer Bank im Schatten und mied bewusst sämtliche Yogis, die hier nach ihrem eigenen Weg zum Heil suchten. Ab und zu gingen Joyce und ich zusammen spazieren und unterhielten uns. Wie sonst in ihrer Praxis in New York auch konnte ich alles herauslassen, während sie zuhörte und mir Ratschläge gab.
    Am dritten Tag langweilte ich mich. Es war ein seltsames Gefühl: eine Leere in meinem Kopf, wie ich sie seit langer Zeit nicht mehr erlebt hatte. Inzwischen hatte ich hier alles gemacht, was man tun konnte, ohne an irgendwelchen Kursen teilzunehmen, und mir fiel nichts mehr ein. Aus Neugier schlich ich mich in den Sunset Room und schaute mir Joyce’ Workshop an. Ungefähr vierzig Leute saßen ihr gegenüber in einem ungeordneten Kreis auf dem Boden, während sie redete. Ich hatte so viel verpasst, dass ich dem Fachvokabular kaum folgen konnte, das sie in all den vergangenen Stunden und Tagen eingeführt hatte.
    Sie sprach über «Körper», als hätten wir davon mehrere. Und sie erwähnte unsere «Geschichte», als hätten wir nur eine. Ich lauschte, ließ ihre Worte auf mich einprasseln. Sie schien ein Zusammenspiel des emotionalen und physischen Körpers zu meinen, die sich in einem unendlichen Regelkreis gegenseitig aufschaukelten. Das kannte ich: ohne Ausweg in mir selbst gefangen zu sein. Allerdings schien Joyce zu lehren, dass man den Kreis durchbrechen konnte, indem man sich neu definierte – die Geschichte änderte, die man sich selbst und anderen immer und immer wieder über sein Leben erzählte –, um dadurch aus der vermeintlich eigenen Haut zu kriechen, sie abzustreifen, die ewig gleiche Geschichte loszuwerden, die man für seine wahre Identität hielt.
    Ich erinnerte mich daran, welche Kraft mir das Spiderman-Kostüm auf der Convention verliehen hatte. Aber es wäre mir nie eingefallen, dass man auch aus der eigenen Haut schlüpfen konnte und dadurch ein anderer Mensch wurde – und zwar ebenso leicht, wie man sie übergestreift hatte.
    Am nächsten Morgen ging ich zur letzten Sitzung des Workshops und sah zu, wie Joyce die Gruppe bei einer Yogaübung anleitete. Ich hielt mich allerdings für zu steif, um dabei mitzumachen.

Weitere Kostenlose Bücher