Der Domino-Killer
Bis jetzt war mir gar nicht aufgefallen, wie trostlos hier alles wirkte.
Die Tür zum Schlafzimmer stand halb offen, dahinter war es dunkel. Ich ging leise hinein, weil ich damit rechnete, Mac schlafend vorzufinden. Aber das Bett sah noch genauso aus, wie wir es mitten in der Nacht verlassen hatten, als Alan anrief: Die Bettdecke lag zusammengeknüllt auf dem zerwühlten Laken, und die beiden Kissen befanden sich auf derselben Seite der Matratze. Es roch muffig, was ich vorher nicht bemerkt hatte.
Ich schaute im Badezimmer nach, aber das war ebenfalls leer. Und in der Küche ließ nichts darauf schließen, dass Mac hier zu Abend gegessen hatte.
Auf meinem Rückweg durchs Wohnzimmer entdeckte ich dann doch noch einen Hinweis darauf, dass er heute im Laufe des Tages hier gewesen sein musste: Der Zettel mit Christa Maxtors Nummer lag auf einem Newsweek-Heft auf dem Couchtisch, neben einem Pappbecher. Ich hob den Becher hoch und entdeckte einen feuchten Kaffeefilm darunter. Der konnte hier also nicht länger als einen halben Tag gestanden haben, andernfalls wäre der Kaffee angetrocknet gewesen. Als ich ihn zurückstellte, fiel mir noch etwas anderes auf. Mac hatte etwas auf dem Papierfetzen notiert: Htwn River 62. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte.
Das Telefon stand auf dem Couchtisch. Ich nahm den Hörer ab und drückte auf Wahlwiederholung. Auf dem Display erschien Christa Maxtors Handynummer und daneben die Uhrzeit des Anrufes: 12 Uhr 33. Also hatte er sie noch angerufen, bevor er zu meinen Eltern gefahren war.
Ich ließ es vier-, fünf-, sechsmal klingeln, bevor ich auflegte. Es war schon nach zehn Uhr, und vielleicht schlief Christa bereits. Oder eben auch nicht.
Um diese Uhrzeit war es still in der Harvard Street. Die Autos parkten in den dafür vorgesehenen Auffahrten. Auf den Veranden brannten die Lampen. Die Hälfte der Häuser lag dunkel da, die Fenster der anderen waren wie ein Schachbrett lichtweiß oder nachtschwarz. Als ich vor dem Haus von Nancy Maxtor hielt, glaubte ich kurz, unten ein Licht ausgehen zu sehen, war aber dann der Meinung, mich doch geirrt zu haben. Der Nachbar von rechts hatte gerade seine Mülltonne an die Straße geschleppt und war im selben Moment in den Radius meiner Scheinwerfer gelaufen, als ich sie ausschaltete. Dadurch war ich wohl einer optischen Täuschung erlegen. Das aufblitzende Licht musste vom ihm reflektiert worden sein, während es im Maxtor-Haus in Wirklichkeit schon vorher ruhig, still und dunkel gewesen war.
Das Haus zu Bett bringen , hatten wir es genannt, als wir noch klein waren. Wir hatten in vielen Häusern gelebt, weil mein Vater bei der Armee gewesen war. Schließlich waren wir in das große Haus an der Upper Mountain Road gezogen, das meine Mutter von ihren Eltern geerbt hatte. Dort blieben wir dann endgültig wohnen, als mein Vater zur Polizei wechselte. Doch ganz gleich, wo wir lebten, es war stets Jons und meine Aufgabe gewesen, alle Türen und Fenster zu schließen und die Lichter auszumachen, bevor wir ins Bett gingen. Wir liefen durchs Haus, zählten Schlösser und Lampen und verglichen am Ende. Der Gewinner durfte seinen großen Moment voller Stolz auskosten, bevor wir unter unsere Decken krochen, in einem Haus, in dem wir uns nun sicher und beschützt fühlten. Trotz der üblichen Geschwisterrivalität waren Jon und ich uns immer sehr nahe gewesen; wir zwei gegen die Welt. Der Gedanke, dass David aufwachsen könnte, ohne seine Schwester zu kennen, trieb mir einen Dolch ins Herz.
Während ich noch so im Auto saß, hatte ich plötzlich den Impuls, Jon anzurufen, um ihm zu sagen, dass ich ihn und Andrea sehr liebte. Ich holte mein Handy aus der Hosentasche, klappte es auf und wählte. Legte wieder auf. Unterdrückte die Welle der Emotionen, weil sie sich einfach zu melodramatisch anfühlten. Rief noch einmal bei Mac, danach bei Alan an – wieder nahm niemand ab, was mich daran erinnerte, weshalb ich hier war: Ich wollte Antworten.
Ich steckte das Telefon in meine Hose, schloss meine Handtasche im Auto ein, ging über den Rasen und klingelte an der Tür, hörte das gedämpfte Läuten im Haus und wartete eine Minute, bevor ich wieder klingelte. Schließlich gab ich auf und drehte mich um.
Christas Auto parkte weder in der Auffahrt noch vor dem Haus. Mir war aufgefallen, dass einige dieser Häuser noch Garagen auf der Rückseite hatten, also ging ich ums Haus herum, um nachzusehen. Falls das Auto auch dort nicht stand, wusste
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