Der Drachenflüsterer - Der Schwur der Geächteten
dreimal schnitt er sich, bevor er nach letzten Haarsträhnen tastete.
»Du blutest«, sagte Nica, die plötzlich neben ihm kniete. Erschrocken schnitt er sich jetzt auch noch in die Stirn.
»Autsch!« Vorwurfsvoll sah er sie an.
»Autsch«, sagte Nica mitfühlend. »Jetzt blutest du noch mehr.«
»Ach nein«, knurrte er. »Und warum?«
»Weil du dich geschnitten hast.« Sie lächelte. »Schneidest du mir auch die Haare? Ich weiß, warum du es tust.«
Ben schüttelte den Kopf. »Sonnenstrahlen kann man nicht einfach abschneiden.«
»Bitte. Wenn ich es selbst machen muss, schneide ich mich bestimmt.«
Er sah ihre Haare rot werden wie eine untergehende Sonne, doch er wollte nicht, dass es Nacht wurde auf Nicas Kopf. Noch während er sich über diesen Gedanken wunderte, griff er vorsichtig nach einer ersten Strähne und schnitt sie auf Kinnhöhe ab. Kürzer würde er es nicht machen, es durfte nicht vollkommen dunkel werden auf ihrem Kopf.
Unentschlossen hielt er die sonnengleiche Strähne in der Hand, er konnte sie einfach nicht zu Boden fallen lassen.
Also stopfte er sie sich in die Hosentasche und langte nach der nächsten.
Nica kicherte.
Als er fertig war, kniff er die Augen zusammen, um sein Werk zu begutachten. Sonderlich gerade war ihm der Schnitt nicht gelungen, doch das machte nichts, auch die Ränder der Mittagssonne faserten aus, wenn man direkt hineinblickte.
»Feuerschuppe hat es mir erzählt«, sagte Nica.
»Was?«
»Dass du der Erste warst.«
»Der Erste?«
»Der Erste auf meinem Balkon.« Sie streckte die Hand aus und strich über seine Wange. Sie begann zu kribbeln, und dieses Kribbeln war stärker als das, das der Pilz hervorgerufen hatte.
»Ich...« Ben wollte etwas sagen, nur wusste er nicht, was. Bilder von der Nacht, als er zu ihrem Fenster hochgestiegen war, tauchten in seinem Kopf auf. Es schien ewig her zu sein.
Nica beugte sich vor und küsste ihn ganz sanft auf den Mund. Ihre Lippen waren ebenso trocken wie seine. Einen Moment lang verharrte Ben wie zu Stein erstarrt, doch Nica zog den Kopf nicht wieder zurück. Dann erwiderte er den Kuss.
Es dauerte lange, bis sie sich voneinander lösten. Jedes Taubheitsgefühl war aus Bens Zunge gewichen, und doch spürte er noch die Leichtigkeit des Pilzes.
Unten am Bach landete Aiphyron und rief: »Essen! Es gibt... ähm... ein Tier.«
Der Rufbrachte die Erinnerung an die Welt wieder in Bens Gedanken, und er sagte ganz leise: »Yanko ist mein Freund.«
»Ja. Aber warum hast du nie etwas gesagt?«
Ben zuckte mit den Schultern. Was sollte er darauf antworten? Ich konnte nicht, ich war auf der Flucht? Du hättest mir damals, nicht zugehört? Nach seiner Rückkehr nach Trollfurt war alles anders gewesen, alles zu spät.
»Es gibt Essen«, sagte er und erhob sich.
»Warum hast du nichts gesagt?«
»Yanko ist mein Freund«, murmelte Ben noch einmal.
Beladen mit Schuldgefühlen kletterte er von den Felsen. Nica folgte ihm schweigend.
KETZER IM WIND
I n der Abenddämmerung aßen sie die Reste von Aiphyrons Beute, einem gefleckten Tier, das an eine Kuh erinnerte, auch wenn die Hörner kleiner und direkt nach vorn gerichtet waren, und es Tatzen statt Hufen hatte. Das Fleisch schmeckte jedoch nach Fisch, nur zäher. Ben konnte sich nicht erinnern, je von einem solchen Tier gehört zu haben. Krampfhaft versuchte er, sich an alle Geschichten über irgendwelche Waldwesen zu erinnern, nur um nicht an Nicas Kuss zu denken. Ohne Appetit kaute er auf dem Fleisch herum, blickte viel zu Boden und nur manchmal zu den anderen beiden hinüber. Nica hatte sich an Yanko geschmiegt, kicherte viel und spielte mit seinen Fingern. Nicht einen einzigen Blick schenkte sie Ben.
»Wir sollten noch schnell die letzten Pilzkappen pflücken, für unterwegs.« Yanko lachte schmatzend, er war bester Laune.
Kein Wunder, dachte Ben, ließ er sich doch von Nica kraulen wie ein Hund.
»Die machen echt verrückte Dinge mit deinem Kopf. Macht Spaß.«
»Es sind Seherpilze. Sie sind heilig und nicht für dein Vergnügen da, sondern um die Wahrheit zu sehen«, wandte Nica ein.
»Auch recht. Die Wahrheit ist schließlich auch nicht zu verachten. Dann soll also die Wahrheit unser Vergnügen sein.«
Wenn du die Wahrheit von heute Morgen wüsstest, würdest du nicht
von Vergnügen sprechen, dachte Ben. Wie hatte er nur Nica küssen können? Seine Gefühle für sie waren doch längst verblasst. Das war nur passiert, weil Anula ihn hatte hängenlassen, sie war schuld.
Weitere Kostenlose Bücher