Der Drachenflüsterer - Der Schwur der Geächteten
Oder eigentlich waren es die Pilze – sie hatten ihn verwirrt und dazu gebracht, seinen besten Freund zu hintergehen. Er hatte sich wie angetrunken gefühlt, nur viel leichter im Kopf, klarer als nach einem Becher schwerem Rotwein.
Die Pilze zeigen einem die Wahrheit.
Taten sie das wirklich? Vielleicht hieß es auch nur so, vielleicht irrte sich Nica diesbezüglich. Schließlich hieß es ja auch, dass die alten Legenden die Wahrheit verkündeten, doch über den angeblich bösartigen Charakter der geflügelten Drachen und Samoths Fluch logen sie.
»Ich gehe dann mal ein bisschen Wahrheit pflücken.« Yanko küsste Nica, erhob sich behäbig und klopfte die letzten Brösel von seiner Hose. Verschwörerisch zwinkerte er Ben zu.
»Lass gut sein, ich hol sie schon.« Ben sprang auf. Auf keinen Fall wollte er mit Nica allein bleiben.
»Aber übersieh’ keinen. Schließlich wollen wir die ganze Wahrheit, nicht nur die halbe.«
»Nein, lass einen stehen!«, rief Nica. »Alle darf man nicht nehmen, niemals! Für den Fall, dass ein Priester dringend die Wahrheit sucht, darf man einen Fundort nie völlig leer pflücken.«
»Ein Priester? Hier? Im Umkreis von Meilen lebt keine Menschenseele. Von Dutzenden Meilen, vielleicht Hunderten.« Yanko lachte wieder oder immer noch. Sollte er, solange er noch konnte.
»Das hat nichts zu sagen, die Wahrheit findet man nicht immer vor der Tür. Manchmal läuft ein Priester tagelang,
um Seherpilze zu finden. Ich sagte doch, sie sind selten und wachsen nicht an jeder Ecke.«
Inzwischen hatte Ben den ersten Felsen erklommen und rief über die Schulter zurück, dass er einen stehen lassen würde. Dabei wusste er eigentlich nicht, warum er einem Priester einen Gefallen tun sollte, solange sie Falsches über Drachen predigten. Oder warum Nica ihn küsste und dann keines Blickes mehr würdigte.
Von Yanko kam kein Protest.
Bei den Pilzen angekommen, ließ er sogar mehr als nur einen stehen. Er selbst würde sicher keine einzige dieser Kappen mehr anrühren, sollte die ganze wirre Wahrheit und Nicaküsserei doch für Yanko bleiben. Einen Pilz nach dem anderen schnitt er ab und sammelte alle in seinem Hemd, das er auf den Boden gebreitet hatte. Dann faltete er es sorgsam zusammen, so dass möglichst keine Kappe brach, und rieb die Hände gründlich an der Hose ab. Er traute diesen Pilzen einfach nicht.
Bevor er sich auf den Rückweg machte, steckte er sich dennoch zwei in die Hosentasche. Es könnte ja sein, dass er doch noch einmal die Wahrheit erkennen musste, und wer wusste schon, ob sie ihm da nicht helfen konnten. Dabei schwor er sich aber, sie nur anzurühren, wenn Nica nicht in der Nähe war.
Sie flogen beinahe die ganze Nacht, der Wind wehte Ben kühl durchs geschorene Haar. Immer wieder fuhr er sich mit der flachen Hand über die kurzen, unregelmäßigen Stoppeln, es fühlte sich fremd an. Dabei kratzte er sich den frischen Schorf von der Stirn und der Kopfhaut. Zu früh, neues Blut trat aus den Schnitten. Fluchend ließ er es laufen, es war ohnehin nicht viel.
Als er sich vorhin im Wasser gespiegelt hatte, hatte er sich erschreckt und kaum erkannt. Mit den Schnittwunden und dem schlecht geschnittenen, kurzen Haar sah er aus wie ein Wegelagerer. Niemand würde ihm vertrauen, doch ebenso würde niemand eine Verbindung zu dem gesuchten Ben ziehen; er ähnelte sich nicht mehr.
Schließlich erreichten sie eine bergige Gegend, Genaues konnte Ben in der Dunkelheit nicht erkennen, und Nica deutete nach unten und ließ die Drachen landen.
Am breiten oberen Ende einer unübersichtlichen Klamm schlugen sie ihr Lager auf. Der Bach, der über die Jahre die Klamm in die Bergflanke gefressen hatte, war schmal, vielleicht acht oder neun Schritt breit, höchstens zehn; erst zur Schneeschmelze und bei starkem Regen würde er wieder zu einem reißenden Gewässer ansteigen. Hier oben fanden sie an seinem Ufer ausreichend Platz, um sich niederzulassen. Für einen ausgedehnten Augenblick gurgelte Aiphyron eine kleine Flamme im geöffneten Rachen, um den Menschen ein wenig Licht zu spenden, auf dass auch sie sich einen Überblick verschaffen konnten.
Die Drachen waren an einer beinahe flachen Stelle zwischen den hohen Bergflanken gelandet. Hier floss der Bach fast ruhig dahin, bevor er ein Stück hangabwärts über mehrere Stufen in die Tiefe stürzte. Niemand würde diesem friedlichen Gewässer zutrauen, einen solch tiefen Spalt in den Stein zu graben.
Kaum gelandet, tranken sie gierig
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