Der Drachenflüsterer - Der Schwur der Geächteten
im Stein sehen, ja, konnte sie mit seinen Fingerkuppen richtiggehend spüren, ohne sie wirklich zu berühren. Das Grün des Mooses wurde zum einzig wahren Grün der Welt, dem grünsten Grün aller Zeiten, dem ursprünglichen Grün, so tief und saftig. Nicas offenes blondes Haar hatte das Licht der aufgehenden Sonne aufgesaugt, selbst hier im Schatten der Felsen, und jede einzelne Strähne wurde zu einem Lichtstrahl. Mit geöffnetem Mund starrte Ben sie an, während sie den Kopf mit geschlossenen Augen kreisen ließ. Vom Pilz in ihrem Schoß war nur noch der Stiel übrig.
Auch Yanko hatte inzwischen die ganze Kappe gegessen. Den Stiel hatte er sich ins linke Ohr gesteckt, während er das
rechte auf den Felsboden gelegt hatte und selig vor sich hin brabbelte: »Ich kann sein Herz schlagen hören. Ich kann sein Herz schlagen hören.«
Ben hörte nichts schlagen, doch er spürte plötzlich einen kalten Hauch über die Felsen hinwegziehen, wie der beißende Nordwind, der im Spätherbst den ersten Schnee von den strahlend weißen Gipfeln des Wolkengebirges nach Trollfurt hinuntergeweht hatte. Schneller als sich die Härchen auf seinen Armen aufrichten konnten, war der eisige Hauch wieder verschwunden. Ben blickte sich um und sah für einen winzigen Moment zahlreiche Steckbriefe an den umstehenden Bäumen hängen. Ausnahmslos handelte es sich um Steckbriefe, auf denen Nica, Yanko und er gesucht wurden. Nicas Haar strahlte auch auf ihnen wie die Sonne, während seines wie hässliches Gestrüpp wirkte, tief in die Stirn hängendes, vertrocknetes Moos.
»Tausend Gulden«, murmelte er. »Bei einer solchen Summe werden sie uns durch die ganze Welt jagen.«
»Ich kann sein Herz schlagen hören«, brabbelte Yanko noch immer.
Mit dem nächsten Lidschlag waren die Steckbriefe verschwunden, doch Ben wusste nun, dass sie an den Haaren erkannt werden würden, das hatte der Seherpilz ihm offenbart. Wie auch die Wahrheit über sein Haar: Es war hässliches, verdorrtes, traurig herabhängendes Moos. Niemand konnte solches Haar lieben.
In aller Ruhe zog er sein Messer und hielt sich die Klinge vor das Gesicht. Sie schimmerte silbern, und er bewegte sie hin und her, immer schneller. Glückselig betrachtete er das flackernde Schimmern der Klinge.
Nica ließ immer noch den Kopf kreisen.
Es war wirklich ein wunderschönes Messer, das er von Yanko bekommen hatte. Gerührt strich Ben mit den Fingern über die Klinge, er hatte das Gefühl, einfach alles berühren zu wollen. »Danke, Yanko. Du bist der beste Freund der Welt.«
»Ich kann sein Herz schlagen hören«, sagte Yanko und öffnete die Augen. Langsam hob er den Kopf, strahlte Ben an, zog den Stiel aus seinem Ohr und hielt ihn Ben entgegen. »Der Fels hat ein Herz. Hör mal.«
»Später, das hat noch Zeit. Erst musst du dir die Haare wachsen lassen. Und zwar schnellstens. Damit sie dich nicht mehr erkennen. Das ist dringend! Die elendigen Steckbriefe sind überall.«
»Die Haare wachsen lassen?« »Ja. Deine sind zu kurz zum Schneiden. Und wir müssen uns verändern. Unsere Haare werden uns verraten.«
Yanko lachte laut und meckernd los, schlug dabei mit den flachen Händen auf den Boden. Nach ein paar Augenblicken brach das Lachen abrupt ab, und er starrte Ben mit weit aufgerissenen, glänzenden Augen an. »Verdammt, du hast Recht.«
»Die Pilze haben Recht.«
Yanko brummte zustimmend und rollte den Stiel zwischen den Handflächen hin und her. Dann zerquetschte er ihn bedächtig und rieb sich die Überreste in die stoppeligen Haare. Mit wackeligen Beinen erhob er sich und stieg vom Felsen herab. »Ich geh zum Fluss und gieß’ meine Haare, bis sie mir tief in die Stirn hängen.«
Ben nickte, den Blick stur auf die funkelnde Klinge in seiner Hand gerichtet. Er konnte sich in ihr spiegeln. Einen Moment lang starrte er auf seine Haare, vielleicht auch einen Tag lang, wer konnte das schon unterscheiden, dann packte er mit der Linken seinen Schopf und setzte die Klinge knapp über
der Kopfhaut an. Es ziepte, als er an den Haaren herumsäbelte, aber er biss sich auf die Lippen. Jammern und Weinen war für Kinder. Immer wilder riss und zerrte er an ihnen, Büschel um Büschel fiel zu Boden.
»Autsch.« Das Messer war ihm abgerutscht, und er hatte sich die Kopfhaut geritzt. Doch der Schmerz ebbte rasch wieder ab, ein Tropfen Blut rann ihm über die Stirn, und er wischte ihn beiläufig weg. Pah! Was für eine Babywunde, das spritzte ja gar nicht.
Dann setzte er neu an. Noch
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