Der Drachenflüsterer - Der Schwur der Geächteten
erspart.«
Daher weht also der Wind, dachte Anula. Er wollte die tausend Gulden kassieren, bevor dies einer seiner Mitbrüder tat. Es ging ihm nicht darum, einen gefährlichen Ketzer zur Strecke zu bringen, bevor der anderen weiteres Leid antun konnte, sondern nur um die ausgerufene Belohnung.
»Es tut mir leid«, sagte sie und starrte an die Decke, wo sich in den letzten Tagen Raureif gebildet hatte, weil ihr Körper so viel Kälte ausstrahlte. »Ich weiß es wirklich nicht. Und ich kann mich an keinen hilfreichen Hinweis erinnern. Er hat nie davon gesprochen, woher er kommt, wohin er geht. Er hat mir nur schöne Augen gemacht.«
»Erfolgreich, wie ich sehe.«
»Pah«, stieß sie so verächtlich wie möglich hervor. »Ich habe ihn weggeschickt. Er ist nicht mein einziger Verehrer, ich finde einen besseren.«
»Das könnte ich dir vielleicht sogar glauben.« Lächelnd streckte er die Hand aus, um ihr über die Wange zu streichen, doch kaum hatte er sie berührt, zuckte er zurück und starrte auf seine Fingerkuppen, die sich plötzlich röteten.
»Du wirst schon noch reden«, knurrte er und stapfte zur Gittertür zurück. »Ich finde einen Weg, dich zum Sprechen zu bringen, und dann hole ich mir diesen Ben. Und seine Freunde.« Wütend verließ er die Zelle. Draußen zog er noch einmal seinen Dolch und fuhr damit klappernd über die Gitter. »Und wie du reden wirst.«
Anula starrte ihm hinterher. In ihrem vereisten Innern regte sich rein gar nichts. Doch als sie daran dachte, dass der weiße Drache Ben finden würde, löste sich eine kleine Eisperle aus ihrem Augenwinkel und fiel zu Boden, wo sie zersplitterte.
VIERZINNEN
S eit einer Stunde liefen sie durch die Straßen von Vierzinnen, die sich zu der frühen Stunde nur langsam füllten. Unauffällig musterte Ben jeden Passanten, achtete darauf, ob ein Erkennen über sein Gesicht huschte, ein gieriger Ausdruck. Er lauschte darauf, ob sich hinter ihnen Schritte beschleunigten und zuckte zusammen, wenn irgendwo ein lauter Ruf ertönte. Doch nie galt irgendetwas davon ihnen, und so beruhigte er sich allmählich.
Die Straßen waren schmal und gewunden, aus dem grauen Felsen gehauen und von den gröbsten Spitzen und Kanten bereinigt. Zwei oder drei breite Wendeltreppen führten auf jeder Zinne in die Tiefe, und so gelangten sie in die unterirdischen Ebenen der Stadt, in der ein vergleichbares Straßennetz von einer Haushöhle zur nächsten führte.
Die Felswände waren vollkommen glatt, die Decken gerundet wie ein Tonnengewölbe. Sowohl Wände als auch Decken waren von kristallinen weißen, gelben und roten Adern durchzogen, die ein stetes Schimmern abstrahlten, so dass jeder Weg in dämmriges Licht getaucht war und niemals Dunkelheit herrschte. Auf der Außenseite waren solche Adern nicht zu sehen gewesen, dort war der Stein von einem schmutzigen Grau. Als sie in der vierten Tiefebene der zweiten Zinne einen Blick in eine Gaststube warfen, sahen sie, dass dort das Strahlen der Adern mit Hilfe von schwarzen Vorhängen verdeckt werden konnte. Das dürfte vor allem in den Schlafräumen von Bedeutung sein.
»Warum leuchtet der Kristall?«, fragte Ben, doch die anderen zuckten mit den Schultern. Vorsichtig berührte er eine rote Ader. Sie war hart, trocken und gab Wärme ab wie ein Stein, der einen heißen Sommertag lang in der Sonne gelegen hatte. Er zog die Hand zurück. Darüber konnte er sich Gedanken machen, wenn sie ihren Schwur erfüllt hatten.
Oben hatten sie gesehen, dass an den Unterkanten der Dächer Rinnen angebracht waren, die das Regenwasser auffangen konnten. Dieses wurde über weitere Rinnen und Röhren bis zu einer Zisterne hinabgeleitet, die im Zentrum der ersten unterirdischen Ebene jedes Felsens errichtet war. In den untersten Ebenen fand sich jeweils ein Brunnen, der weit über hundert Schritt in die Tiefe gebohrt worden sein musste.
Als sie unbeobachtet waren, ließ Ben in der dritten Zinne, der größten, einen Stein in einen Brunnen fallen. Dessen Aufprall auf dem Wasser konnten sie erst spät und nur gedämpft vernehmen.
»Noch ein paar Meter weiter, und du hättest direkt in Samoths gute Stube getroffen«, sagte Yanko leise. Lauter zu sprechen wagte er nicht, denn unter der Erde sollte man Vorsicht walten lassen mit dem Namen des heuchlerischen Gottes der Tiefe. Dort war man ihm zu nah.
»Komm.« Nervös zog Nica ihn weg und zum Treppenhaus hinüber, ihr schien der Gedanke an Samoth neben diesem Schacht unheimlich. Ben folgte ihnen,
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