Der Drachenflüsterer - Der Schwur der Geächteten
doch er sah sich weiter nach menschlichen Verfolgern um, nicht nach einem über einen harmlosen Scherz verärgerten Gott.
Reiß dich zusammen, dachte er. Niemand kannte sie hier, nirgendwo hatte er einen Steckbrief gesehen, und niemand würde sie so verändert überhaupt erkennen. Hier lebten Ketzer, keine Ordensleute. Wenn er nicht aufpasste, würde er über
seiner ständigen Vorsicht noch den Verstand verlieren. Hier waren sie sicher. Wer sich fürchten sollte, das war der Hohe Norkham.
Während über der Stadt schwarze Nachtadler kreisten oder krächzend auf den Giebeln saßen, tapsten hier unten dunkel gefleckte Hamster, so groß wie Bens Füße, mit großen gelben Augen durch die Gänge. Sie bewegten sich mit einer Selbstverständlichkeit und inneren Ruhe wie streunende Katzen und Hunde in vielen oberirdischen Städten. Nur beiläufig achteten sie auf die drei Freunde, sie schienen keine Angst vor Menschen zu haben.
Allzu viele waren es nicht, doch Ben hatte seit ihrer Ankunft bestimmt schon drei oder vier gesehen. Und nun entdeckte er einen Hamster, wie er sich an der Wand aufrichtete, mit den kleinen dürren Vorderpfoten am Fels abstützte und hektisch über einen grün schimmernden Kristall leckte. Beschwingt und mit leuchtender Zunge eilte der Hamster nach ein paar Augenblicken weiter, während sich Ben bemühte, zu Nica und Yanko aufzuschließen. Vierzinnen war eine seltsame Stadt.
»Wie wollen wir den Hohen Norkham finden?«, fragte Nica. »Ich habe noch keinen Tempel gesehen, aber wie soll man in dieser verwinkelten Stadt auch den Überblick bewahren?«
Das war eine gute Frage. Ben wusste mit Sicherheit, dass sie noch nicht auf der vierten Zinne gewesen waren, doch er konnte auf keinen Fall beschwören, ob sie schon die fünfte unterirdische Ebene der zweiten Zinne besucht hatten. Und schon gar nicht, ob sie dort jeden Gang abgelaufen waren. Von außen wirkte die Stadt nicht groß, doch für Fremde schien sie ein einziges Labyrinth zu sein.
»Ein Tempel für Hellwah muss im Freien sein, er ist niemals unterirdisch«, erinnerte sie Yanko. Und so stiegen sie wieder hinauf.
»Wenn wir hier jemals rauskommen, will ich nie wieder eine Treppe sehen«, knurrte Ben, als er die hundertundzwölfte Stufe gezählt hatte und noch immer kein Sonnenlicht in Sicht war.
»Wir hätten doch Aiphyron mitnehmen und uns tragen lassen sollen.« Nica wandte sich um und lächelte Ben schwer atmend an.
Zögerlich lächelte er zurück und senkte den Blick. Er wollte nicht an ihren Kuss denken. Durfte es nicht, Yanko war sein Freund. Doch immer, wenn Nica lächelte, spürte er wieder ihre Lippen auf den seinen, und das machte ihn wütend auf sie und auf sich selbst.
Er zwang seine Gedanken zu Anula, obwohl er es sich verboten hatte. Oder besser: versucht hatte, es sich zu verbieten. Aber es half, ihn abzulenken. Nur, warum hatte nicht sie ihn geküsst statt Nica? Alles wäre nun viel einfacher. Außerdem war sie viel schöner als die hinterhältige Küsserin mit dem verschnittenen blonden Haar! Bestimmt lag sie jetzt noch im weichen Bett oder scheuchte hochnäsig andere Dienerinnen durch die Gegend. Sollte sie doch ihr bequemes Leben weiterleben und es sich in Falcenzca gutgehen lassen! Wieder und wieder hatte er das in den letzten Tagen gedacht, doch nun schwang in dem Gedanken immer stärkeres Bedauern mit, dass sie nicht hier war. Warum nur war sie nicht mitgekommen? Und warum hatte sie ihn trotzdem nicht verraten? Es fiel ihm immer schwerer, ihr ewige Einsamkeit zu wünschen.
Als sie schließlich an die Oberfläche kamen, stellten sie fest, dass sie hier noch nicht gewesen waren; beim Wechsel von
der zweiten auf die dritte Zinne hatten sie eine Brücke benutzt, die zwei unterirdische Ebenen miteinander verband.
Schulterzuckend folgten sie der nächstbesten Gasse und erreichten eine schmale, leicht abwärts führende Brücke, die zur vierten, ein paar Schritt tiefer liegenden Zinne hinüberführte. Auf den ersten Blick erkannten sie, dass dort nur der Rand bebaut war. Schmale Häuser reihten sich an steinerne Schuppen, Ställe und mannshohe Mauern. Die gesamte Innenfläche war frei und stellenweise dicht mit saftigem Gras bewachsen, in der Mitte erhob sich ein halbes Dutzend kleinerer Felsen. Auf ihnen und um die Felsen herum tummelten sich zahlreiche langhaarige Trauerziegen, die ihren Namen dem stets mürrischen Gesichtsausdruck und ihrer behäbigen Art verdankten. Dennoch reizte man sie besser nicht, denn ihre
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