Der Drachenflüsterer - Der Schwur der Geächteten
aus, hatte jeden Knochen und jeden Muskel befallen. Ihr Herz schlug nur noch langsam und gedämpft, als läge es unter einer hohen Schneedecke. Wenn sie die Hand auf die Brust legte, fand sie das Pochen nicht. Doch es musste da sein.
Bei jeder Bewegung knirschte jedes Gelenk, als wäre es eingefroren. Freiwillig bewegte sie sich kaum. Sie lag oder
saß auf der mickrigen Pritsche, starrte vor sich hin und dachte an den kalten weißen Drachen mit den eisigen Augen, der schnüffelnd auf sie zugetrabt war und sie mit einem Hauch in Starre versetzt hatte. Ein weißer Drache des Hohen Abts, der immer dann ausgesandt wurde, wenn es galt, einen schlimmen und gefährlichen Feind des Ordens zu jagen. Was hatte Ben nur getan?
»Ich weiß, dass du ihn kennst«, knurrte der Ritter und knackte drohend mit den Knöcheln. »Der Diener an Herrn Dicimes Palasttor hat mir verraten, dass der Junge ausdrücklich nach dir gefragt hat. Es gibt Zeugen, die mir eifrig versichert haben, dass du dich mit ihm zu einem geheimen Gespräch zurückgezogen hast. Geheimes Getuschel, was? Eine verbotene Liebschaft? Oder doch eher eine Verschwörung gegen den heiligen Orden und das Großtirdische Reich?«
Sie schwieg. Sie hatte keine Angst davor, verprügelt zu werden, sie fühlte rein gar nichts, kein Glück, keine Freude, keine Angst, nur diese nagende Kälte. Ihr eisiger Körper war so taub, sie würde wohl nicht einmal die Faustschläge spüren. Oder sie würde in tausend Stücke splittern wie ein Eiszapfen. Was machte das schon, sie konnte ihr Herz nicht mehr hören, möglicherweise war sie sowieso schon tot.
»Vor Wochen war er schon einmal bei dir. Ich weiß alles!« Grimmig starrte er sie an. »Rede, verdammt noch mal, rede! Du gehörst zu seinen Verschwörern, du bist seine Spionin in Falcenzca!«
»Ich bin keine Spionin.«
»So? Und warum, bei Samoths unheiligem Namen, schützt du ihn dann?«
»Ich schütze ihn doch gar nicht! Ich weiß nur nicht, wo er ist.«
»Ach so? Das ist alles?«
»Ja.«
»Und warum hast du dann nicht nach uns gerufen, als er bei dir aufgetaucht ist?«
Genau das hatte sie sich seither schon tausendmal gefragt. Was hatte sie zurückgehalten? Sie konnte doch nicht ernsthaft verliebt sein in diesen kleinen verlogenen Verbrecher ohne Manieren! Er war sogar jünger als sie. Er war eine viel zu schlechte Partie, und doch hatte sie etwas gefühlt, etwas, das sie nun nicht mehr zurückrufen konnte, denn ihr Herz war so leise und von Kälte umhüllt. Doch sie erinnerte sich, dass es bei dem Gedanken an Ben schneller geschlagen hatte, dass er oft ihre Gedanken besetzt und sie nie das Glück vergessen hatte, das spürbar durch ihre Hände geflossen war, als sie mit ihm die Schulterknubbel von Schilfrücken berührt hatte. Wo war dieses Glück jetzt? War das alles echt genug gewesen, um ihn nicht zu verraten? Hätte sie es getan, wäre sie jetzt frei und reich. Doch diese Gedanken gingen den Ritter nichts an.
»Ich habe niemanden gerufen, weil ich ihn nicht als den gesuchten Ketzer erkannt habe«, sagte sie zum wiederholten Mal. »Dabei hätte ich liebend gern die tausend Gulden eingestrichen, glaub mir, dann wäre ich jetzt reich und keine Dienerin mehr.«
Ein dünnes Lächeln zeigte sich auf den Lippen des Ritters. Langsam ging er auf sie zu und beugte sich zu ihr herunter, bis sein Gesicht nur noch eine Handbreit von ihrem entfernt war. Sein Atem stank nach Zwiebeln, Fisch und Bier, doch sie zuckte nicht zurück. Sie war um jedes bisschen Wärme froh, das ihren Körper erreichte.
»Selbst wenn ich dir glauben würde, dass du mit ihm nicht
gemeinsame Sache machst, dass er auch dir etwas vorgespielt hat, dass du nicht wusstest, dass er ein Verräter ist, bleibt es eine Tatsache, dass du ihn kennst«, sagte er. »Und deshalb weißt du, wohin er sich gewandt haben könnte. Das ist die Gelegenheit, deinen guten Willen zu zeigen, uns zu helfen. Sei nicht verstockt, gib dir ein wenig Mühe. Rate seinen Aufenthaltsort, versuch dich zu erinnern, was er gesagt hat. Wenn du schon nichts mit ihm zu tun haben willst, ich würde ihn wirklich gern finden.«
»Meinst du nicht, dass der weiße Drache ihn sowieso findet?«
»Du sagst es, er wird auf jeden Fall gefunden.« Das Lächeln des Ritters wurde breiter, er bemühte sich sichtlich, freundlich zu wirken. »Damit sollte dir also klar sein, dass du ihn nicht retten kannst. Nur dich selbst. Hilf mir also, damit ich ihn vor dem Drachen aufspüre. Dann bleibt ihm die Kälte
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