Der Drachenflüsterer - Der Schwur der Geächteten
aufgewachsen war als er.
Der Nachtadler schrie.
»Schon gut«, sagte Yanko. »Vielleicht hängt dort einfach eine Räuberbande, die die Stadt lange in Atem gehalten hat.«
»Und warum nimmt sie niemand runter?« Anklagend sah Nica Yanko an, als hätte er die elf Menschen eigenhändig aufgehängt.
Yanko zuckte mit den Schultern.
»Das müssen wir drinnen herausfinden«, murmelte Ben und ging weiter. Er hielt sich möglichst weit rechts und starrte stur geradeaus. Weder wollte er die Steilwand zu seinen Füßen hinabblicken noch in die Augen der baumelnden Toten.
Er hörte, wie Nica und Yanko ihm mit vorsichtigen Schritten folgten.
Als er auf der Höhe des dritten Galgens angekommen war, nagte die Neugier jedoch zu stark an ihm, und er schielte vorsichtig zu dem Gehenkten hinüber, jederzeit bereit, den Blick sofort zu senken. Das Alter des Mannes ließ sich nicht mehr so einfach schätzen, doch er war groß und kräftig, und seine Kleidung aus gutem Tuch gefertigt. Der linke Ärmel seines Hemds war bis zum Ellbogen hochgekrempelt und gab den Blick auf das untere Ende einer Tätowierung frei, die sich über den Oberarm erstrecken musste. Es war der detailreich gestochene, gewundene Schwanz eines grünen Drachen. Demnach musste der Tote ein Ketzer gewesen sein.
Natürlich, dachte Ben. Wenn hier in erster Linie Ketzer leben, müssen wohl auch die Räuber aus der Umgebung Ketzer sein.
Er sah auf zu dem Mann am Galgen, doch der drehte sich in einer Windbö und starrte nun auf das Stadttor. War das etwa ein Zeichen?
Wahrscheinlich. Die Welt steckte voller Zauber, gerade auf Friedhöfen und an Hinrichtungsstätten und überhaupt an jedem Ort, wo der Tod zu Hause war.
Doch was wollte der Tote ihm damit sagen?
Nichts. Ben schüttelte den Kopf, er hatte mit ihm nichts zu schaffen, hatte ihn nicht gekannt. Warum sollte er also zu ihm sprechen?
Im Weiterstapfen warf er wie unter Zwang immer wieder kurze Blicke auf die anderen Toten. Drei waren Frauen, und einer schien nicht viel älter als Ben selbst gewesen zu sein, doch jetzt war seine Haut grau. Keiner von ihnen schien Armut gelitten zu haben, kein Kleidungsstück war geflickt, hie
und da sah Ben sogar Schmuck blitzen. Nicht einmal der war ihnen nachts gestohlen worden.
»Das waren keine Räuber, sicher nicht«, raunte er den anderen über die Schulter zu, als er nur noch wenige Schritte vom Tor entfernt war. Längst mussten die Wächter sie gesehen haben, und wenn sie laut redeten, konnten die sie wahrscheinlich verstehen.
»Das glaube ich auch nicht«, flüsterte Yanko. »Hier stimmt irgendwas nicht.«
»Ganz und gar nicht. Am besten sagen wir erst mal niemandem, was wir hier wollen.«
»Natürlich nicht.« Nica drängte Ben in Richtung Tor. »Nur lass uns erst einmal reingehen, ich will weg von diesen verdammten toten Augen.«
Der Nachtadler ließ ein klagendes Krächzen hören.
Den Wächtern erzählten sie, dass sie hier waren, um für Yankos Onkel nach Geschäftsbeziehungen zu sehen. Ihre Namen nannten sie nicht. Ebenso verschlafen wie wortfaul, ließen die beiden Torwächter sie ohne Aufhebens passieren. Sie sprachen in einem ungewohnten Dialekt, die meisten Worte klangen harscher als im Norden, nur das R wurde weicher gerollt.
Ben wagte es nicht, sie nach den Gehenkten zu fragen. In der Stadt würden sie schon alles Nötige erfahren.
EIN EISIGER HAUCH
W o ist der Kerl hin?«, fragte der blonde Ordensritter mit dem buschigen Schnurrbart, der ihm neben den verkniffenen Mundwinkeln bis zum Kinn hinabreichte. Anula wusste nicht, der wievielte Ritter es war, der ihr dieselbe Frage stellte, immer wieder. Sie wusste nicht, wie er hieß und warum er nicht müde wurde, sie zu befragen.
Längst hatte er aufgehört, sich die Fingernägel mit seinem Dolch zu reinigen. Wahrscheinlich hatte er eingesehen, dass er sie damit nicht beeindrucken konnte, vielleicht hatte er sich auch einfach nur schmerzhaft gepiekst oder Angst, die Nägel mit der Klinge irgendwann ganz abzutragen. Dreck zum Herauskratzen konnte sich dort schon seit gut einer Stunde nicht mehr befinden.
»Ich weiß es nicht«, hauchte Anula mühsam und zum tausendsten Mal. Noch immer zitterte sie am ganzen Körper, seit zwei oder drei Tagen wich die beißende Kälte nicht aus ihrem Körper. Wie lange genau sie hier war, konnte sie nicht sagen, in der fensterlosen Zelle konnte sie die Zeit schwer schätzen. Meistens dämmerte sie vor sich hin.
Tief saß die Kälte in ihr und füllte sie vollkommen
Weitere Kostenlose Bücher