Der Drachenthron: Roman (German Edition)
bewegte sich keinen Zentimeter. Shezira schluckte ihren Ärger hinunter und schnallte sich mit dem zweiten Geschirr an. Jaslyn schnalzte mit dem Zügel. Vidar trottete gemächlich zum Rand der Klippen, erhob sich träge in die Lüfte und schwebte dann elegant über das Tal der Diamanten, die Wasserfälle und in die unendliche Weite über der Stadt der Drachen.
»Du bist verstimmt, Mutter«, rief Jaslyn.
Shezira kniff die Lippen fest zusammen. Verstimmt? Verstimmt?! Ich bin wütend, du dummes Gör. Mehr als wütend, und das wärst du ebenfalls, wenn du von Hyrams Plänen wüsstest. Würde auch nur das kleinste Fünkchen Ehrgeiz in dir stecken, würdest du vor Wut kochen! Allerdings hätte es keinen Sinn, mit Jaslyn darüber zu reden. Ich sollte wahrscheinlich dankbar sein, dass sie überhaupt etwas bemerkt hat.
»Mutter, du machst Vidar nervös.«
Für einen kurzen Moment wurde alles rot. Shezira rutschte unruhig im Sattel hin und her. Sie wollte sich am liebsten auf ihre Tochter stürzen und sie erwürgen, doch gleichzeitig war sie wild entschlossen, die Kontrolle über sich nicht zu verlieren. Unter ihr spürte sie, wie der Drache ebenfalls zuckte und plötzlich einen Satz nach vorne machte.
»Mutter!«
Shezira ballte die Hände zu Fäusten. Jaslyn wusste, dass etwas nicht stimmte, weil ihr Drache spürte, dass etwas nicht in Ordnung war. Das sah ihrer Tochter ähnlich.
»Bring mich unverzüglich zum Palast«, fauchte Shezira.
Jaslyn gab Vidar mit einem kleinen Stupser zu verstehen, dass er einen Sturzflug machen sollte. Der Drache presste die Flügel an den Körper und sauste kopfüber und mit ausgestrecktem Schwanz zum Palast hinab. Sie fielen wie ein Stein etwa eine Meile senkrecht durch die Luft. Der Wind war ohrenbetäubend und erstickte jedes Gespräch im Keim. Zu guter Letzt, als der Palast auf sie zuschoss, war es sogar beinahe unmöglich, irgendetwas anderes zu fühlen als das Rauschen des Windes und die entsetzliche, aber gerade noch im Zaum gehaltene Angst, dass sie zu schnell flogen, dass sie unmöglich anhalten konnten …
Da breitete Vidar die Flügel aus. Shezira wurde nach vorne gerissen, war dem Drachen völlig hilflos ausgeliefert, der ruckartig das Tempo drosselte. Sie bekam keine Luft. Wahrscheinlich war sie kurz ohnmächtig gewesen, denn einen Moment hatte ein ungeheures Gewicht auf ihr gelastet, und alles war grau geworden, und im nächsten war der Druck plötzlich verschwunden, und sie schwebten in weit ausladenden Kreisen über den Palasttürmen. Nach der Landung warf Jaslyn die Leiter hinab. Shezira kletterte sehr langsam und vorsichtig hinunter. Sie zitterte. Sobald sie sicheren Boden unter den Füßen hatte, sah Jaslyn sie mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht an.
Shezira lächelte nicht. »Hyram wird Königin Zafir als nächste Sprecherin vorschlagen«, sagte sie. »Warum machst du mit ihr keinen Ausritt und quetschst ihr das Leben aus dem Leib?«
Sie drehte sich um und eilte mit ausladenden Schritten zum Turm der Abenddämmerung.
45
Semian
R eiter Semians Bein schmerzte immer noch. Äußerlich war die Wunde vernarbt und schon vor Wochen verheilt. Innerlich tat sie jedoch höllisch weh. Sobald er rannte, wurde der Schmerz schlimmer. Wenn er im Turm der Abenddämmerung die Treppe hinaufsteigen musste, wurden die Qualen unerträglich. Selbst wenn er einfach nur dastand, wurde das Pochen mit der Zeit so heftig, dass er sich hinsetzen musste. Der Pfeil des Söldners hatte sich tief in seine Hüfte gebohrt. Die Knochen mussten gesplittert oder gebrochen sein und würden nie wieder richtig zusammenwachsen. Semian versuchte zwar, sich nichts anmerken zu lassen, aber den anderen Drachenrittern entging nicht, dass er ein Krüppel war.
Er stand stocksteif da, als Lady Nastria erschöpft die Kellertreppe heraufkam. Sie sah sehr müde aus, mitgenommener, als Semian sie je zuvor erlebt hatte. Ein seltsamer Geruch waberte von unten herauf. Bitter und scharf. Dann setzten die Geräusche ein. Anfangs war es ein leises Reißen, dann das Knacken von Knochen. Semian erschauderte und wollte nicht weiter darüber nachdenken.
Genau in dem Moment, als Lady Nastria aus den Kellergewölben auftauchte, landete ein Drache draußen im Hof. Semian erkannte ihn auf der Stelle. Vidar. Die Torflügel wurden geöffnet, und Königin Shezira stürmte herein. Sie wirkte aufgewühlt und wütend.
»Eure Heiligkeit.« Lady Nastria stellte sich ihr in den Weg. »Ich habe herausgefunden
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