Der Drachenthron: Roman (German Edition)
die Stimme in seinem Kopf. Mehr Drachen kommen, Kleiner Kailin. Wir müssen los. Auf der Stelle.
38
Die Spiegelseen
D ie Spiegelseen, die wie ein Gürtel um die Stadt der Drachen lagen, wurden gemeinhin als vollkommen rund und unendlich tief beschrieben. Der Boden fiel nicht sanft und geschmeidig zum Wasser hin ab, sondern bildete plötzlich einen steilen Krater. In den Mythen der Drachenpriester hatte der Heilige Drache die Welt aus Lehm geformt und sie dann in den Flammen seines Atems gebrannt. Die Menschen in der Stadt waren nicht besonders gläubig, doch in einem Punkt waren sie sich grundsätzlich einig: Wenn die Priester recht hatten, mussten die Spiegelseen dadurch entstanden sein, dass der Drachengott bei seiner Arbeit die Klauen genau an dieser Stelle in den Lehm gegraben hatte. Gerüchten zufolge bewohnten sonderbare und abscheuliche Kreaturen die Seen, tauchten manchmal mitten in der Nacht an die Oberfläche des Wassers, verschlangen mit einem Bissen ganze Boote und sanken dann wieder in die Tiefe hinab, wo sie spurlos verschwanden.
Von der Stelle aus, an der Jehal saß – oberhalb des Diamantwasserfalls -, konnte man sehen, dass die Seen keineswegs vollkommen rund waren. Er war außerdem überzeugt, dass sie weder unendlich tief noch von Ungeheuern heimgesucht waren, doch niemand hatte weder für das eine noch für das andere je einen Beweis erbracht. Verschwundene Schiffe, dachte Jehal, waren wohl eher das Werk von Dieben, und jegliches Ungeheuer, das in den Seen hauste, war höchstwahrscheinlich menschlicher Natur.
Die Stadt und der Adamantpalast, die etwa eine halbe Meile unter ihm lagen, waren ebenfalls zu sehen, wenn auch nur verschwommen durch einen Schleier aus feinem Dunst.
Das alles wird eines Tages mir gehören. Mir!
Hinter ihm planschte Geisterschwinge in der Strömung des Diamantflusses. Ein Schatten glitt über sie hinweg, und wenige Augenblicke später setzte ein weiterer Drache zum Landeanflug an. Die beiden Drachen beäugten sich neugierig. Der Neuankömmling tauchte ins Wasser ein und begann gierig zu trinken. Sein Reiter sprang auf Jehal zu und nahm den Helm ab.
»Ich habe mich schon gefragt, ob du unsere Verabredung überhaupt einhältst. Du schuldest mir ein paar Erklärungen«, sagte Jehal. Er musste sehr laut sprechen, um sich über das Tosen des Wasserfalls Gehör zu verschaffen.
Zafir lächelte. Sie erwiderte nichts, sondern setzte sich neben ihn und starrte über den Felsrand in die Tiefe hi nab.
»Du solltest vorsichtig sein«, sagte Jehal. »Du könntest fallen.«
»Wir könnten beide fallen.«
»Ich habe beobachtet, wie du vom Drachennest aus hierher geflogen bist. Du hast keine Reiter mitgebracht. Niemand weiß, wo du bist. Niemand weiß, mit wem du dich triffst.«
Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Hast du Reiter mitgenommen, Prinz?«
»Natürlich nicht. Man kann nie wissen, wer ihre Taschen mit Gold füllt.«
»Wie tief ist meine Mutter gefallen?«
Jehal zuckte mit den Schultern. »Wir sind jetzt höher. Du hast meine Elixiere gestohlen. Und du hast Hyram Briefe geschrieben.«
Sie sah ihn nicht an. »Du hast deine neue Familie besucht. Wie geht es Königin Shezira?«
»Fühlst du dich bedroht, meine Liebe?«
»Überhaupt nicht. Du etwa?«
»Nicht im Geringsten.«
»Ich habe deine Elixiere nicht gestohlen. Ich habe sie an mich genommen, weil du es mir aufgetragen hast.«
»Ich habe dich gebeten, eines zu nehmen.«
»Hyram hat sie jetzt.«
»Ich weiß.«
Sie sah ihn an, und ein zaghaftes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Und ich weiß, dass du es weißt. Ich habe deinen kleinen goldenen Drachen auf dem Fensterbrett bemerkt, der uns aus seinen rubinroten Knopfaugen beobachtet hat. Wie viele dieser Drachen hast du noch?«
»Nur diesen einen und den, den ich dir geschenkt habe. Es war ein Hochzeitsgeschenk der Taiytakei.«
Zafir hob eine Augenbraue. »Dann hat es sich für dich ja fast gelohnt, deine kleine, süße Braut zu heiraten. Und was wollen die Taiytakei im Gegenzug?«
Jehal zuckte mit den Achseln. »Sie wollen mich wohl glücklich sehen.«
»Das hört sich nicht nach den Taiytakei an.«
»Sie wollen, was sie immer wollen und nie bekommen werden. Ein Ei.« Für einen kurzen Moment starrte Jehal ins Leere und ließ dann den Blick über die Stadt unter ihnen schweifen. Hier oben zu sitzen und die Füße über dem Abgrund baumeln zu lassen gab ihm beinahe das Gefühl, fliegen zu können. Ohne Drachen, nur er ganz alleine. Es
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