Der Dreitagemann - Der Dreitagemann - The Pursuit of Alice Thrift
Schlafgewohnheiten und über die letzten Tage, die meine Großmutter auf Erden wandelte.‹«
»Wenn du mich so fragst, dann hätte ich wirklich nichts dagegen, dich einmal im Familienkreis zu erleben.«
»Ist das die Thriftsche Art zu sagen: Ausgezeichnet! Ich wollte deine Mutter ohnehin schon lange kennen lernen, Leo?«
Ich sah da zwar keinen Unterschied, sagte aber ja.
8
BEI LEO
Wir fuhren mit der Straßenbahn hinaus. Als mich ein Drehkreuz beinahe außer Gefecht setzte, musste ich zugeben, dass ich so gut wie nie Verkehrsmittel benutzte.
»Warum nicht?«
»Viel zu beschäftigt, um irgendwo hinzufahren.«
»Weißt du was? Ich kann das nicht mehr hören. Ich arbeite auch viel, und ich kenne eine Menge Ärzte im Praktikum, die das auch tun, und die kommen trotzdem noch raus. Die haben ihre Piepser dabei. Aber wie’s aussieht, bist du auch noch stolz darauf, dass du sonst kein Leben hast.«
Hatte er Recht? Würde ich enden wie Dr. Perzigian, der Chef der Thoraxchirurgie? Dr. Perzigian war allgemein bekannt dafür, dass er um fünf Uhr morgens Visite machte, sich in der Krankenhauskapelle im OP-Kittel hatte trauen lassen und die Geburt seines Sohnes verpasste, weil er einen Stadtrat, einen notorischen Schürzenjäger, dem sein Lebenswandel zum Verhängnis geworden war, durch eine Notoperation nach einem Messerstich vor dem Tode bewahrte.
»Das wird nämlich auf die Dauer recht eintönig.«
»Dann ist es eben eintönig. Das Einzige, was mich wirklich interessiert, ist, dass ich nächstes Jahr weitermachen darf, dann Assistenzärztin werde und schließlich meinen Facharzt in Plastischer Chirurgie machen kann.«
Man sollte meinen, ein derartiges Plädoyer würde beifällig aufgenommen werden. Stattdessen schockte Leo mich mit der Bemerkung: »Ich habe dieses Wort bewusst gewählt, denn ich bin verantwortlich für die soziale Entwicklung von Alice Thrift.« Den beiden Teenagern, die vor uns saßen, gereichte diese Aussage sehr zur Unterhaltung.
Als ich mich räusperte, drehten die Mädchen sich völlig unbefangen um und musterten mich. Ich bedachte sie mit dem strafenden Blick einer ältlichen Lehrerin, damit sie sich um ihren eigenen Kram kümmerten. Leo tippte einer der beiden auf die Schulter und sagte mit seiner nettesten Kinderstationsstimme: »Meint ihr nicht auch, dass meine Freundin sich ein bisschen mehr Zeit für private Dinge nehmen und sich weniger Gedanken um ihren Ruf als Alice die Überarbeitete machen sollte?«
Die Mädchen, die beide kastanienbraun gefärbte Strähnen hatten, sahen sich an und grinsten hämisch.
»Ihr braucht gar nicht so zu schauen«, sagte Leo. »Das zieht bei mir nicht. Ich bin in einem Haus voller Schwestern aufgewachsen. Ich will eine Antwort.«
Die, die am Fenster saß, fragte oberschlau: »Noch nie was von ›Sprich nie mit Fremden‹ gehört?«
»Ich bin Krankenpfleger und sie ist Ärztin«, erwiderte Leo. »Da gilt das nicht. Insbesondere nicht in einem Straßenbahnwagen mit einem Haufen potenzieller Samariter drum herum.«
»Die sind vielleicht vierzehn«, murmelte ich.
»Fünfzehn«, verbesserte die, die am Gang saß.
»Eine hervorragende Zielgruppe«, sagte Leo. »Ich habe ein paar Nichten in dem Alter, auf die kann ich mich immer verlassen, wenn’s um eine ehrliche Meinung zu meinem Hemd, meiner Krawatte, meiner Frisur, meinen Schuhen, meinen Freundinnen, meinem Musikgeschmack oder was auch immer geht.«
Eine sagte leise: »Musik?«
Leo nannte Personen oder Gruppen oder Alben - von denen ich noch nie in meinem Leben gehört hatte - und brach damit auch die letzte Eisschicht zwischen sich und den beiden Mädchen vor uns, mit ihren gepiercten Augenbrauen und ihren von irgendwelchen gemeinsam verschlungenen dreieckigen Chips orange gefärbten Fingerspitzen.
Welche Rolle Leo in dieser Aufführung spielte? Die des lockeren, redegewandten, ungekünstelten Charmebolzens - es sollte ein Lehrstück sein, führte mir aber in erster Linie meine eigene Unsicherheit vor Augen.
Leo hatte mich zwar vorgewarnt, trotzdem versetzte mir die Masse der Jesusbilder auf sämtlichen vertikalen und horizontalen Oberflächen im Haus seiner Mutter erst mal einen Schock. Mama Frawley lebte noch immer in dem Haus in Brighton, in dem Leo aufgewachsen war, und das auch jetzt noch ein paar der dreizehn Kinder beherbergte, die sie großgezogen hatte: Marie, die geschiedene Sonderschullehrerin, war zwar einen Kopf kleiner als ihr Bruder Leo und hatte doppelt so viele
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