Der dreizehnte Apostel
um und ging in die Kapelle, wo Schwester Hildegard lag. Nicht einmal eine der Nonnen kam, aber sie hatten wahrscheinlich schon vorher ihre Totenwache gehalten.
(Nein, haben sie nicht.)
Und so kniete ich nieder, zusammen mit Faith, die zehn Minuten später auftauchte, und betete für Schwester Hildegards Seele, obwohl ich sie nicht einmal gekannt hatte, aber ich wollte, daß … daß man für sie betete. Niemand sollte sterben, ohne daß es zumindest eine Art von Feierlichkeit, von Abschiedsworten gab.
Du lieber Himmel, dachte Lucy, als sie wieder in die Gegenwart zurückkehrte, und fühlte Ekel angesichts so hemmungsloser Frömmigkeit.
(Aber es gibt kein irdisches Gut, das reiner ist als das Gute in den Kindern.)
Lucy blickte auf und riss sich aus ihren Träumereien, als ein weißhaariger, freundlich aussehender Mann in Regenmantel und Hut in den Raum geeilt kam und wortreich schimpfte. Die anderen am Tisch hörten zu reden auf, um ihn zu begrüßen.
»Himmel, jetzt hab’ ich glatt das ganze prima Essen verpasst «, jammerte Pater Keegan. »Aber ich schwör’s, das war jetzt das letztemal mit dieser Fluglinie, also wirklich! In der Zeit, die das gedauert hat, hätte ich selber über die Irische See schwimmen können! Gatwick war nahe an meiner Vorstellung von der Hölle, das kan n ich euch sagen!« Schwester Ma rie-Berthe tröstete ihn: »Ja, Pater, aber die Getränke stehen noch auf dem Tisch.«
Zur Belustigung aller schnappte sich Pater Keegan die Portweinkaraffe und füllte sich ein Glas, noch bevor er den Mantel ablegte und sich auf seinen Platz setzte. »Ach ja, die gute Gabe Gottes steht hier vor uns. Was ist in dieser Flasche neben dir, Paddy?«
»Beaumes de Venise, Pater«, erwiderte Dr. O’Hanrahan. »He, sc hieb mal rüber, Junge, aber dal li!«
Nach dem komischen Auftritt des Paters ging die Diskussion weiter. Wenn die Männer in ihrer Familie, dachte Lucy, doch nur eine Unze von Humor in bezug auf das Trinken hätten. Oft schon hatte Lucy die Theorie aufgestellt, daß Sinn für Humor das erste war, was einer Irin oder einem Iren abhanden kam, sobald sie oder er den Fuß auf amerikanischen Boden setzte. Das Trinken und das Frömmeln dagegen kamen unvermindert über den Atlantik, da war Lucy ganz sicher. »Ich sage Ihnen, Paulus war nicht frauenfeindlich, bis die frühen Kirchenväter ihn dazu gemacht haben«, polemisierte Schwester Marie-Berthe immer noch. »Und ich bin sicher, daß Miss Dantan mir zustimmt!« Lucy registrierte, daß Dr. O’Hanrahan ihr einen abschätzenden Seitenblick zuwarf. »Entschuldigung, Dr. O’Hanrahan«, murmelte sie, »ich habe nicht zugehört. Worum ging es gerade?«
»Um die Stellung der Frauen in der frühen Kirche«, flüsterte er zurück und unterdrückte ein Gähnen.
»Worum es schon seit mindestens einer Stunde geht. Verdammter Feminismus!«
»Man könnte argumentieren«, begann Dr. Abdullah, »daß Paulus fast nichts von Christi Lehre oder Ansichten wusste . Er preist eher einen abstrakten Messias als den Jesus, der existiert hat. Er sagt selbst, daß er für drei Jahre fortgegangen sei, um über alles nachzudenken, und daß er absichtlich nicht nach Jerusalem gegangen sei, um mit denen zu sprechen, die Jesus gekannt hatten. Irgendwo im Römerbrief steht: Wir wissen ja nicht, um was wir bitten sollen, wie es sich gehört …«
»8 … 8,26« ergänzte der Archimandrit.
»Denken Sie nur!« fuhr Dr. Abdullah höflich fort. »Paulus hatte nicht einmal vom Vaterunser gehört.«
»Es ist richtig, daß es bei Paulus nur sehr wenige direkte Zitate Jesu gibt«, räumte Dr. Gribbles ein, der den Abend über geschwiegen hatte, seit er Schwester Marie-Berthe geärgert hatte, und der anscheinend nicht genug von den Crackers bekommen konnte, obwohl er sich die von allen anderen zusammengebettelt und vorher schon sämtliche Brotreste verdrückt hatte. »Aber die Evangelien waren ja noch nicht geschrieben, was also hätte Paulus über Jesus lesen können? Und im 1. Korintherbrief 11,24 zitiert er Jesus beim Abendmahl.«
»Das wirft eine Reihe von Fragen auf«, meinte Dr. O’Hanrahan. »Paulus zitiert Jesus: Tut dies zu meinem Gedächtnis. Professor Jeremias hat in den 30er Jahren sehr überzeugend nachgewiesen, daß die Worte in dieser Passage für Paulus zu modern sind. Und natürlich steht dieser Satz in keinem der Evangelien.«
Einige Geistliche, darunter Dr. Gribbles, zogen hastig ihre Bibeln zu Rate, weil sie momentan unsicher waren, ob der vertrauteste Satz
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