Der dritte Kontinent (Artesian 3) (German Edition)
stehen und beide schauten nach Osten, wo sich die Wand der Glaskrieger unaufhaltsam näher schob. Dice wechselte auf die rechte Seite, tastete nach Tiras Hand, nahm sie und hielt sie fest. Sie sahen einander an und zum ersten Mal seit vielen Wochen hatte Tira nicht das Gefühl, allein zu sein.
„300 Meter“, sagte Dice, aber niemand hörte sie.
Ein leichter Wind kam auf, und mit dieser Böe, die das Versprechen von Wachstum und Wärme über Land trug, erhob sich Tippets zarte Stimme. Verstärkt durch die Technik von der Independence und von den Kräften Artesians umgewandelt schaffte sie es spielend den Hügel hinauf, wo ihre Gefährten angespannt warteten, wurde dann sanft davon getragen und löste sich auf, als sie die Wehrmauer Idenhals erreichte.
Tippet verstummt nachdenklich. Singen war gar nicht so einfach. Sie kannte vor allem die dunklen Gesänge der Magier und Adepten. Wann immer die ihre schaurigen Lieder irgendwo angestimmt hatten, war sie auf der Stelle geflohen. Zum Ausgleich, aber auch weil sie nicht wollte, dass die Lieder der Nat Chatkas die einzigen waren, die in Lomakk erklangen, hatte sie bald nach anderen, sanften und lebensbejahenden Melodien gesucht, sie schließlich tief in ihrem Herzen gefunden und leise gesungen. Von diesem Tag an erreichten die düsteren, bedrohlichen Zaubergesänge ihrer Herren sie nicht mehr.
Sie lauschte ihrer inneren Stimme, die von Verlorenheit und Glück sang, von einem Ort, der ihr allein gehörte. In diesen Momenten fühlte sie sich sehr einsam, aber auch sehr lebendig, getröstet von einer Musik, die nur ihr allein gehörte. Auch wenn diese Augenblicke nicht frei von Bitterkeit und Tränen waren, so waren es doch ihre kostbarsten Momente. Wenn sie sang, dann fühlte sie die Gewissheit, dass es außerhalb Lomakks und jenseits der endlosen Gänge und Tunnel etwas gab, wofür es sich zu leben lohnte. Zuletzt verdankte sie der Melodie ihres Herzens den Mut, vor den Nat Chatkas zu fliehen und sich in Tazkys zu verstecken. Wenn Tippet sang, dann war sie frei.
Dice umarmte Tira und küsste sie sanft. „250 Meter“, flüsterte sie ehrfürchtig, während sie salzige Tränen auf Tiras Lippen schmeckte. Tira hatte die Augen geschlossen und las die Zahl mit ihren Lippen.
Tippet sang in einer Sprache, die bislang noch nirgendwo auf Artesian gehört worden war. Zu weich für Drachen und Chetekken, und jenseits all dessen, was Menschen und Hajadas mit Zunge und Stimmband an Lauten erzeugen konnten. Es war wohl eher eine eigene Tippetsprache und sie klang wunderschön, schmiegte sich leise an die Melodie, die der kleinen Drachin aus dem Herzen strömte.
Dice ging herum und hielt die Hand mit zwei ausgestreckten Fingern in die Luft. 200 Meter. Hockster konnte inzwischen Einzelheiten der feindlichen Armee so deutlich erkennen, als stünde er direkt davor, was ja auch fast schon der Fall war. Sing, Tippet, flehte er. Sing, oder wir sind alle verloren!
Die zaghafte Stimme der kleinen Drachin gewann jetzt endlich mehr und mehr an Kraft. Selbst durch den Ohrenschutz war Tippets Gesang gut zu verstehen.
Lauter!
Und Tippets Gesang wurde lauter, ihre Stimme erhob sich weit über den Hügel, auf dem die anderen bislang gut geschützt gestanden hatten, und erreichte die Stadt und die Menschen, die dort auf den Wehrmauern ausharrten und den Angriff des feindlichen Heeres erwarteten.
100 Meter, dachte Dice. Nun machte es keinen Sinn mehr, die Zahlen zu nennen. Die Chetekken hatten den Hügel fast erreicht. Noch einmal küsste sie Tira, nahm dann den Bogen auf und legte einen Pfeil auf die Sehne.
Madigan sah die klobigen Leiber aus Glas und Schuppen. Eine unaufhaltsame Lawine roher Gewalt, angetrieben von unversöhnlichem Hass. Sie ging ein paar Schritte, bis sie dicht hinter Hockster stand und bereitete sich auf einen Kampf vor.
Die kleine Tippet aber saß mit geschlossen Augen am Fuß des Hügels und schien gänzlich verloren vor der herannahenden Wand der gläsernen Klötze und lebendigen Chetekkenleiber. Sie sang jetzt mit solcher Kraft, dass Hockster meinte, er trüge keine Schützer mehr. Die Folie wölbte sich bedrohlich.
Jetzt endlich zeigten auch die Krieger aus Glas eine Reaktion. Einige wenige, vielleicht ein Dutzend von über sechstausend zersprangen in unzählige kleine Brocken porösen Glases. Andere wankten, brachen aus der Formation aus, krachten gegen weitere Krieger, stolperten und fielen und rissen Nachbarn aus Glas und Fleisch mit sich zu
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