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Der Dritte Zwilling.

Der Dritte Zwilling.

Titel: Der Dritte Zwilling. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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berücksichtigt. Zum einen die mögliche Strafe. Falls es sich um eine schwere Anklage handelte, war es riskanter, die Hinterlegung einer Kaution zu erlauben: Die Gefahr, daß ein Beschuldigter das Weite suchte, war bei einem Mord erheblich größer als bei einem Ladendiebstahl. Gleiches galt, wenn der Beschuldigte vorbestraft war und deshalb mit einer langen Haftstrafe rechnen mußte. Steve war nicht vorbestraft; zwar hatte man ihn einmal wegen schwerer Körperverletzung verurteilt, doch er war damals noch keine achtzehn gewesen, so daß man es nicht gegen ihn verwenden konnte. Er würde als ein Mann mit weißer Weste vor den Richter treten. Andererseits drohte ihm ein hohes Strafmaß.
    Der zweite Faktor, der bei der Gewährung von Kaution eine Rolle spielte, waren die ›sozialen Bindungen‹ des Beschuldigten: die Familie, das Heim, der Job.
    Einem Mann beispielsweise, der fünf Jahre lang mit Frau und Kindern in derselben Wohnung lebte und seine Arbeitsstelle gleich um die Ecke hatte, würde man Kaution gewähren, wogegen einem Beschuldigten, der keine Familie in der Stadt besaß, erst sechs Wochen zuvor seine Wohnung bezogen hatte und als Beruf ›arbeitsloser Musiker‹ nannte, eine Kaution wahrscheinlich verweigert würde. Was das betraf, war Steve zuversichtlich. Er wohnte bei seinen Eltern und besuchte im zweiten Jahr eine juristische Hochschule: Er hatte viel zu verlieren, wenn er fortlief.
    Von den Gerichten erwartete man nicht, daß sie die mögliche Gefahr in Betracht zogen, die ein Beschuldigter für die Gesellschaft darstellte; denn dies käme einer Vorverurteilung gleich. Dennoch wurde es in der Praxis so gehandhabt. Einer Person, die in eine andauernde gewalttätige Auseinandersetzung verwickelt war, wurde mit höherer
    Wahrscheinlichkeit eine Kaution verweigert als jemandem, der eine Tat vollbracht hatte. Wäre Steve nicht einer, sondern mehrerer Vergewaltigungen beschuldigt worden, stünde seine Chance auf Kaution gleich null.
    Wie die Dinge stehen, sagte sich Steve, kann es so oder so kommen. Als er nun wieder den schlafenden Porky beobachtete, legte er sich überzeugende Plädoyers zurecht, die er dem Richter vortragen wollte.
    Er war immer noch entschlossen, als sein eigener Verteidiger aufzutreten. Und noch hatte er den einen Anruf nicht getätigt, der ihm von rechts wegen zustand.
    Er wollte um jeden Preis verhindern, daß seine Eltern von dieser Sache erfuhren, bis er ihnen sagen konnte, daß seine Unschuld erwiesen sei. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, den Eltern zu erzählen, daß er im Gefängnis saß; er würde ihnen damit zu sehr weh tun. Zwar wäre es für Steve eine Hilfe gewesen, sein Leid mit ihnen teilen zu können, doch jedesmal wenn er versucht war, die Eltern anzurufen, sah er ihre Gesichter vor sich, als sie vor sieben Jahren, nach der Schlägerei mit Tip Hendricks, auf dem Polizeirevier erschienen waren. Steve sah ein, daß er ihnen mit diesem Anruf mehr Schmerz bereiten würde, als Porky Butcher ihm jemals zufügen konnte.
    Die ganze Nacht hindurch waren neue Verhaftete in die Zellen gebracht worden.
    Einige verhielten sich teilnahmslos und schicksalsergeben, andere protestierten und beteuerten lautstark ihre Unschuld, und wieder andere wehrten sich wild - mit dem Erfolg, daß sie professionell zusammengeschlagen wurden.
    Gegen fünf Uhr morgens war dann Ruhe im Zellenblock eingekehrt. Gegen acht Uhr brachte Spikes Ablösung ein Frühstück, das aus einem Restaurant namens Mother Hubbard’s stammte. Die Essensausgabe sorgte für Unruhe bei den Insassen anderer Zellen, und der Lärm weckte Porky.
    Steve blieb, wo er war: Er saß auf dem Boden und schien mit leerem Blick ins Nichts zu starren, doch aus dem Augenwinkel beobachtete er Porky voller Angst.
    Steve vermutete, daß Freundlichkeit als Zeichen von Schwäche ausgelegt würde. Die Haltung passiver Feindschaft gegen Gott und die Welt erschien ihm angemessener.
    Porky setzte sich auf der Schlafpritsche hin, hielt sich den Kopf und starrte Steve an, sagte aber keinen Laut. Steve vermutete, daß der Kerl ihn taxierte.
    Nach ein, zwei Minuten sagte Porky: »Was machse hier drin, Scheiße noch mal?«
    Steve setzte eine Miene haßerfüllten Zorns auf; dann ließ er langsam den Blick schweifen, bis er Porky genau in die Augen schaute. Für einen Moment starrten die beiden sich an. Porky war ein gutaussehender Bursche mit fleischigem Gesicht, auf dem ein Ausdruck dumpfer Angriffslust lag. Aus blutunterlaufenen Augen

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