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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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hinausgeschoben.
    Mehrere Tage war er so umhergelaufen, ständig von Hunger geplagt und immer schwächer werdend, als ihm eines Morgens dann etwas widerfuhr, das ihn regelrecht niederschmetterte. Er klapperte eine Straße mit Lagerhäusern ab, und ein Aufseher bot ihm eine Arbeit an, doch kaum hatte er damit angefangen, wurde er wieder weggeschickt, weil er nicht kräftig genug war. Und er stand da und mußte mit ansehen, wie ein anderer an seine Stelle trat. Dann nahm er seine Jacke und ging davon, wobei er alle Kraft aufbieten mußte, um nicht loszuheulen wie ein Kind. Er war verloren, war zum Untergang verurteilt! Es gab keine Hoffnung mehr für ihn! Doch dann schlug seine Angst plötzlich in Wut um. Er begann wild zu fluchen: Nach Einbruch der Dunkelheit werde er zurückkommen und dem Kerl schon zeigen, daß er noch zu was taugt!
    Er murmelte das noch immer vor sich hin, als er an der Ecke an einen Grünkramladen kam, vor dem als Auslage ein Korb Kohlköpfe stand. Nach einem raschen Blick in die Runde bückte sich Jurgis, griff sich den größten der Kohlköpfe und rannte damit um die Ecke. Hinter ihm erhob sich ein Zetermordio, und ein Dutzend Männer und Jungen setzten zu seiner Verfolgung an, doch er fand einen Durchgang und dann einen zweiten, der von diesem abzweigte und auf eine andere Straße führte. Dort verlangsamte Jurgis seine Schritte, ließ den Kohlkopf unter der Jacke verschwinden und mischte sich unauffällig unter die Passanten. Als er eine sichere Entfernung erreicht hatte, setzte er sich hin und verschlang den halben Kohlkopf roh; den Rest stopfte er sich für den nächsten Tag in die Taschen.
    Gerade zu dieser Zeit eröffnete eine Chicagoer Zeitung, die viel Wesens um die »einfachen Leute« machte, eine »Suppenküche« für die Arbeitslosen. Manche Leute behaupteten, sie tue das, weil das Reklame für sie bedeutet; andere meinten, sie habe bloß Angst, daß ihr sonst noch all ihre Leser verhungern. Aber was auch immer der Beweggrund sein mochte, die Suppe war kräftig und warm, und jeder bekam kostenlos einen Schlag, die ganze Nacht hindurch. Als Jurgis das von einem Leidensgenossen hörte, schwor er sich, daß er noch vor dem Morgen dort mindestens ein dutzendmal gegessen haben würde, doch wie sich dann herausstellte, mußte er froh sein, auch nur eine einzige Portion zu bekommen, denn die Menschenschlange vor dem Stand zog sich zwei Häuserblocks weit hin – und sie war auch nicht kürzer geworden, als man schließlich zumachte.
    Diese Versorgungsstelle lag innerhalb der Gefahrenzone, nämlich im Levee-Viertel, wo man Jurgis kannte, aber er ging trotzdem immer wieder hin, denn er war verzweifelt und begann langsam sogar das Gefängnis als Zufluchtsort anzusehen. Bisher war das Wetter erträglich gewesen, und Jurgis hatte im Freien schlafen können, auf einem unbebauten Grundstück, doch nun meldete sich plötzlich der nahende Winter mit eisigem Nordwind und peitschenden Regengüssen. An diesem ersten kalten und nassen Tag genehmigte sich Jurgis zwei Schnäpse, nur um im Trockenen zu sitzen, und am Abend gab er seine letzten beiden Cents in einer »Schalbier-Stampe« aus. Deren Wirt war ein Neger, der andere Kneipen abfuhr und aus den dort draußen liegenden Bierfässern die Neigen abzog; nachdem er dem Zeug Kohlensäure zugesetzt hatte, damit es ein bißchen schäumte, verkaufte er es für zwei Cent den Krug, wobei mit dem Bestellen eines Kruges das Recht verbunden war, die ganze Nacht dort auf dem Fußboden zu schlafen, inmitten eines Haufens von Stadtstreunern, weiblichen wie männlichen.
    All diese Greuel trafen Jurgis um so schlimmer, als er sie ständig mit den Möglichkeiten verglich, die er gehabt und verloren hatte. Es war jetzt wieder Wahlzeit; in fünf, sechs Wochen würden die Stimmberechtigten des Landes einen Präsidenten wählen, und Jurgis hörte die armen Teufel, die seine Gesellschaft bildeten, darüber reden und sah die Straßen der City mit Plakaten und Fahnen geschmückt – wie ließen sich da Worte finden für den Kummer und die Verzweiflung, die sich seiner bemächtigten?
    Da war zum Beispiel ein Abend während dieser Kälteperiode. Vom frühen Morgen an hatte Jurgis gebettelt, was er konnte, und dennoch keine Seele gefunden, die ihm Beachtung geschenkt hätte, bis er dann am späten Nachmittag eine alte Dame aus einer Straßenbahn steigen sah, ihr mitsamt Schirm, Tasche und Paketen heraushalf und anschließend die Geschichte von seinem Unglück erzählte. Nachdem

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