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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Upton Sinclair
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nicht nur für das Vergehen büßen, dessen er sich schuldig gemacht hatte, sondern auch noch für andere, die man ihm in die Schuhe schieben würde, geradeso wie damals irgendein armer Teufel seinen und Duanes Raubüberfall auf den »Provinzterrier« hatte ausbaden müssen.
    Hinzu kam, daß ihm jetzt alles viel schwerer fiel. Er hatte sich an einen neuen Lebensstandard gewöhnt, den wieder aufzugeben nicht leicht war. Bei seinen früheren Arbeitslosigkeiten war er schon zufrieden gewesen, wenn er in einem Torweg oder unter einem Fuhrwerk, die Schutz vor Regen boten, schlafen konnte und dazu am Tag fünfzehn Cent für das Essen in den Kneipen zusammenbekam. Inzwischen aber war er anspruchsvoller geworden und litt nun unter den Entbehrungen. Er brauchte einfach ab und zu einen Schnaps, und zwar um des Schnapses willen, nicht nur wegen des damit verbundenen freien Essens. Das Verlangen danach war so stark, daß es alle anderen Überlegungen verdrängte – er mußte den Schnaps haben, und wenn es ihn seine letzten fünf Cent kostete und er den Rest des Tages zu hungern hatte.
    Wieder einmal belagerte er die Fabriktore. Doch niemals in all seiner Zeit in Chicago waren die Aussichten auf Arbeit geringer gewesen als jetzt. Zum einen war da die Wirtschaftskrise, und die ein, zwei Millionen Arbeitslosen des Frühjahrs und Sommers hatten noch nicht alle wieder unterkommen können. Und dann natürlich der Streik – durch den im ganzen Lande siebzigtausend Männer und Frauen schon monatelang ohne Beschäftigung waren, in Chicago allein zwanzigtausend, und viele davon suchten jetzt in der Innenstadt nach Arbeit. Daß der Streik dann ein paar Tage später aufgegeben wurde und etwa die Hälfte der Streikenden in die Fabriken zurückkehrte, machte die Lage nicht besser, denn auf jeden Wiedereingestellten kam ja ein nun arbeitsloser Streikbrecher. Die zehn- bis fünfzehntausend Neger, Ausländer und Kriminellen wurden jetzt auf die Straße gesetzt und mußten zusehen, wie sie sich durchschlugen. Wohin Jurgis auch kam, stieß er auf sie, und er lebte in ständiger Furcht, es könnte einer von ihnen wissen, daß er »gesucht« wurde. Er wäre gern aus Chicago weggegangen, doch als er die Gefahr erkannte, hatte er schon so gut wie keinen Cent mehr, und es war immer noch besser, ins Gefängnis zu kommen, als draußen auf dem Lande dem Winter ausgeliefert zu sein.
    Nach etwa zehn Tagen war Jurgis’ Barschaft auf unter einen halben Dollar zusammengeschrumpft, und er hatte noch immer keine Arbeit gefunden – nicht einmal als Aushilfe für einen Tag oder auch nur als Kofferträger für ein paar Minuten. Wie damals, als man ihn aus dem Krankenhaus entlassen hatte, waren ihm Hände und Füße gebunden und sah er sich dem Gespenst des Hungertodes ausgesetzt. Nackte Angst ergriff ihn und ließ ihn nicht mehr los, zermürbte ihn schneller als der tatsächliche Nahrungsmangel. Er würde verhungern müssen! Schon streckte der Böse seine schuppigen Arme nach ihm aus – berührte ihn, blies ihm seinen Pestodem ins Gesicht! Vor Grauen schrie Jurgis nachts auf, erwachte zitternd und in Schweiß gebadet, sprang hoch und floh. Er lief umher und bettelte um Arbeit, bis er vor Erschöpfung nicht mehr konnte, doch er durfte nicht einhalten – er mußte weiterwandern, abgehärmt und ausgemergelt, mit ruhelos spähenden Augen. Wohin er auch ging, von einem Ende der Riesenstadt zum anderen, überall traf er auf Hunderte seinesgleichen. Und allerorten fiel ihr Blick auf Überfluß – doch die erbarmungslose Hand der Obrigkeit scheuchte sie fort. Im Gefängnis sitzt der Mensch hinter Gittern, und alles, was er begehrt, befindet sich draußen; doch gibt es noch eine andere Art von Kerker – da liegen die begehrten Dinge hinter Gittern, und der Mensch ist draußen.
     
    Als Jurgis bei seinem letzten Vierteldollar angelangt war, entdeckte er, daß die Bäckereien kurz vor Ladenschluß alles, was nicht verkauft worden war, zum halben Preis abgaben, und von nun an ging er sich stets für fünf Cent zwei altbackene Brote kaufen, brach sie auseinander, stopfte sie sich in die Taschen und kaute ab und zu ein Stück. Er beschloß, keinen Cent mehr für etwas anderes auszugeben, und nach zwei, drei Tagen begann er, auch mit dem Brot noch zu sparen und dafür die Kehrrichttonnen zu durchstöbern, wenn er durch die Straßen ging; ab und an fand er darin etwas Eßbares, wischte den Müllstaub ab und wähnte dann sein Ende um so und so viele Minuten

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