Der Duft der grünen Papaya
fielen alle Konzentration und Anspannung von ihr ab, und obwohl sie erschöpft und betroffen war, betrachtete sie ein wenig stolz den letzten Rauch, der aus dem Dach in die Dunkelheit des Himmels stieg. Der Papaya-Palast stand, dampfend
und knarrend, so als trotze er ein letztes Mal den Elementen, bevor er von Maschinen besiegt würde.
Ili, schwer gezeichnet von dem dramatischen Ereignis, wankte auf Ane zu. Sie sah die junge Frau an – und dann schlug sie Ane ins Gesicht.
»Warst du das?«, fragte sie kalt.
Evelyn, Ane und auch Moana, die soeben dazugekommen war, waren fassungslos angesichts dieses ungeheuerlichen Verdachts.
»Großtante!«, hauchte Ane entsetzt. »Wie kommst du denn …?«
Eine zweite Ohrfeige traf ihre andere Wange.
»Warst du das?« , fragte Ili, jedes einzelne Wort betonend.
Ane war den Tränen nahe. Sie hielt sich die zitternde Hand vor den Mund und tauschte einen langen Blick mit Ili, in dem sich Verwirrung, Angst, Wut und sogar Unterwürfigkeit spiegelten. Schließlich lief sie ohne ein weiteres Wort davon.
Ili presste ihre Hände auf ihr Gesicht, sank auf die Knie und schluchzte.
Evelyn ging zu ihr. Sie streichelte der Greisin den Rücken und die Haare und versuchte, sie durch einige beruhigende Worte zu trösten.
»Es ist ja gut«, flüsterte sie. »Alles kommt wieder in Ordnung. Das Haus steht, die Plantage ist auch noch da, und Ane wird Ihnen bestimmt nicht böse sein. Jeder versteht, dass das schwere Tage für Sie sind.«
Moana war näher gekommen und sah auf die kauernde Ili herab. Evelyn erwartete einen erneuten Hassausbruch Moanas oder dieses furchtbare, gehässige Gelächter angesichts der verzweifelten, am Boden zerstörten Rivalin. Doch nichts geschah. Moana wirkte eher nachdenklich als triumphierend, und nach einer Weile raffte sie ihr Tuch enger um die Schultern und schlurfte bedächtig, so als sei
überhaupt nichts geschehen, in ihren unversehrten Teil des Papaya-Palastes.
Eine seltsame Familie, dachte Evelyn. Eine Familie, aus der sie einfach nicht schlau wurde.
9
Dieses Schauspiels wurde Ili nie müde. Hinter den Bergen von Upolu stieg die Sonne auf und durchdrang den aufsteigenden Dunst des Waldes, entflammte mit ihrem dichten, mangofarbenen Licht die Felsen des Mount Mafane, spiegelte sich auf den schimmernden Blättern der Pandanusbäume und warf bewegte Schatten kleinerer Wolken auf die Erde. Weit unten funkelte das Meer blau und faltenlos bis zum Horizont. Riesenhaft groß und unendlich klein zugleich kam sie sich stets hier auf dem Gipfel des Mafane vor; ein Pünktchen nur unter der Wölbung des Himmels und doch über allem stehend, fern jedes menschlichen Geräuschs und lediglich ausgesetzt dem Gesang des lauwarmen Windes. Auch die Brandung drang nicht bis in diese Höhe, ja selbst der Wasserfall, der unterhalb von ihr aus dem Berg strömte und sich in frischen, grünlichen Kaskaden zu Tal wand, war hier oben kaum mehr als ein leises Säuseln.
Es gab höhere Berge auf Savaii, es gab leichter zu erreichende Aussichtspunkte und noch reizvollere Plätze als diesen, Plätze auf dem alten Toiawea, dem Vulkan, der zwar nicht mehr grollte, aber gelegentlich Brocken aus Bimsstein die Hänge hinunterschickte, so als wolle er sich in Erinnerung bringen; Plätze belagert von gewaltigen, exzentrisch wachsenden Luftwurzelbäumen, die mit Hängebrücken verbunden waren, so dass man gleichsam auf den
Baumkronen spazieren gehen konnte; oder Plätze am Mali’oli’o River, einsame Badestellen von einer paradiesischen Schönheit, wie man sie aus alten Filmen kennt.
Doch keinem jener Plätze brachte sie das gleiche intensive Gefühl entgegen wie diesem, wo sie stand, umgeben von allem, was ihr seit Kindertagen nahe war. Tuila hatte sie – da war Ili kaum fünf Jahre alt gewesen – an diesen Ort gebracht, hatte in einen Korb gegriffen und Ili stolz die erste auf der Plantage gewachsene Papaya gezeigt. Gemeinsam hatten sie die Frucht verspeist, hatten die Nase in den Wind gehalten und die Sonne hinter den Bergen von Upolu aufgehen sehen.
»Warum sind wir gerade hierher gekommen?«, hatte Ili gefragt.
»Weil ich mich hier häufig mit deinem Vater getroffen habe«, hatte Tuila geantwortet. »Immer wenn ich an ihn denken will, setze ich mich auf diesen Fels, lasse die Sonne aufsteigen und höre dem Wind zu.«
»Und warum ist Vater nicht bei uns?«
Tuila hatte sich mit der Antwort Zeit gelassen, so als warte sie, dass der Wind ihr eine Eingebung zuflüsterte. »Weil
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