Der Duft der grünen Papaya
Ane sie zu einem uralten Pflock, an dem die Polynesier ihre Menschenopfer hingerichtet hatten und an dem die rotbraune Farbe noch heute zu erkennen war, oder zu aus Stein gehauenen, finster dreinblickenden Göttern. Bestimmt war sie nicht die erste Europäerin in der Südsee, die von derartigen Fantasien befallen, und nicht die Erste, die schnell wieder davon geheilt wurde.
Tief im Wald verschloss eine verfallene Mauer den Friedhof der Europäer. Die meisten Gräber waren als solche kaum noch erkennbar. Es gab keine Einfassungen, keinen Blumenschmuck oder Beete, und man wusste nicht, ob man gerade über einen in der Erde ruhenden Körper lief. Manche Grabreihen wiesen keinerlei Kennzeichnung mehr auf, außer eine fast nicht spürbare Wölbung des Bodens, die man erst bemerkte, wenn man über sie hinweglief. In anderen Grabreihen wiederum stand Stein an Stein. Verwittert und von Flechten überzogen, waren die meisten Namen kaum noch lesbar. Nur selten einmal konnte Evelyn seltsam vertraute Namen wie Schmidt oder Kauffmann oder Janssen entziffern, die man an einem so verlassenen Platz am Ende der Welt nicht erwartet hätte.
Dann aber entdeckte sie ein Grab, das ungewöhnlich gepflegt wirkte. Ein roter Hibiskus ragte vor einem Grabstein auf, der größer als die anderen war – und neuer. Daher war es umso unverständlicher, dass die Inschrift kaum noch lesbar war. Herkömmliche Verwitterung hatte damit nichts zu tun – die Inschrift war zerkratzt worden. Deutlich zu erkennen
waren nur noch »Tr« im Vornamen und die letzten Buchstaben des Nachnamens, »erg«. Alles dazwischen war ebenso wie die Lebensdaten unkenntlich gemacht.
Evelyn jedoch erriet rasch, wer hier begraben lag.
Sie blieb noch eine Weile auf dem Friedhof der Europäer, über den die Zeit hinweggegangen war, und dachte daran, wie sie vor wenigen Tagen auf der anderen Seite des Erdballs vor einem Grab gestanden und sich verabschiedet hatte. Und dann, bevor sie etwas dagegen tun konnte, brach sie in Tränen aus und verließ diesen Ort.
Zurück am Wagen, empfing Ane sie mit den Worten: »Jetzt habe ich Hunger.«
Idyllischer konnte ein Restaurant nicht liegen. Der Platz unter den Mangobäumen mit Blick auf das Meer und die Klippen war fantastisch. Einige junge Fischer warfen von schaukelnden Katamaranen ihre Netze aus, Seevögel starteten von Felsen, und auf dem Mangobaum turnten zwei Loris herum, die zwischendurch ein singendes Kreischen wie das Pfeifen einer Lokomotive ausstießen. Ein Stück entfernt an der Küste spielten Kinder auf einem Lavafeld, das im Laufe der Zeit von der Brandung ausgehöhlt worden war und bei jeder hohen Welle riesige Wasserfontänen in die Luft sprühte. Die Kinder kletterten barfüßig über das zerklüftete Gelände und machten sich einen Spaß daraus, Kokosnüsse in die Löcher zu werfen und ihnen auszuweichen, sobald sie von der Brandung hochgeschleudert wurden wie Geschosse.
Evelyn hatte wenig Appetit und stocherte in ihrem Salat herum, während Ane ihr Essen außerordentlich zu genießen schien – kein Wunder, denn Evelyn hatte sie eingeladen. Die junge Frau warf gelegentlich skeptische, verständnislose Blicke zu ihr hinüber, Blicke, die Evelyn gut kannte.
Für sie bist du ein Trauerkloß, dachte Evelyn. Ein depressiver, launischer, hysterischer Trauerkloß.
Vorhin im Wagen, auf der Fahrt zum Restaurant, hatte Evelyn die ganze Zeit über geschwiegen und den Kopf auffällig deutlich zur Seite gedreht. Wenn Ane da noch nicht kapiert hatte, was vorging, so spätestens dann, als Evelyn das Schluchzen nicht mehr unterdrücken konnte.
»Hören Sie«, sagte Ane jetzt und spießte ein Stück Taro auf. »Ich dachte wirklich, dieser Friedhof sei etwas, das Sie gerne sehen würden. Dass er Sie ins Unglück stürzt, konnte ich nun wirklich nicht ahnen. Sie machten den Eindruck, als mögen Sie solche alten Sachen. Und da Sie Deutsche sind, und viele Deutsche auf dem Friedhof der Europäer liegen, glaubte ich …«
»Sie können nichts dafür«, unterband Evelyn weitere Entschuldigungen. »Ich fand es ja auch sehr interessant, vor allem das Grab von Tristan.«
»Ich war noch nie dort. Wenn ich einen Friedhof nur von außen sehe, läuft es mir schon kalt den Rücken runter. Aber Ihnen scheint er ja auch nicht gerade gut getan zu haben.«
Evelyn wollte nicht darüber reden. Nicht mit Ane.
»Ich habe den Eindruck gewonnen«, lenkte sie ab, »dass Tristan etwas mit der Feindschaft zwischen Ili und Ihrer Großmutter
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