Der Duft der grünen Papaya
zu tun hat. Stimmt das?«
Über Moana schien Ane nicht reden zu wollen. Nicht mit ihr.
»Ach, das sind Dinge, die einfach nur nerven.«
»Was war denn der Auslöser?«
»Es gab mehrere Auslöser«, sagte sie knapp. »Diese Fehde ist einer der Gründe, weshalb ich hier unbedingt wegwill. Wichtiger noch ist das, was sich da drüben abspielt.«
Anes bitterer Blick ging in Richtung der spielenden Kinder, so als würde sie Zeuge eines tragischen Geschehens.
»Schauen Sie sich die da drüben an, dann verstehen Sie es.«
»Wieso?«, fragte Evelyn überrascht. »Ich wünschte, ich hätte als Kind einen solchen Spielplatz gehabt. Wir wohnten im zweiten Stock eines Reihenhauses, mitten in der Stadt. Wir hatten eine kaputte Wippe im Hof, einen winzigen Sandkasten und eine verschmierte Mauer, gegen die die Jungs geradezu zwanghaft einen Ball kickten. Das war alles. Den Kindern dort vorn scheint es im Vergleich dazu gut zu gehen.«
»Noch, ja«, räumte Ane ein. »Aber in fünf, sechs Jahren sind sie erwachsen und dann … Wissen Sie eigentlich, wo Sie sich hier befinden? Nur ein paar Meilen weiter endet Savaii, und Savaii ist der westlichste Punkt auf dem Globus, hier endet jeder Tag. Dahinter kommt die Datumsgrenze. Wir sitzen hier buchstäblich am Ende der Welt, Evelyn, und das in jeder Hinsicht. Einige von diesen Kindern dort drüben werden später nach Apia gehen, wo sie Autos reparieren, Radios verkaufen oder die Yachten reicher amerikanischer Touristen putzen. Mit sehr, sehr viel Glück kommt einer von ihnen in die Bank oder wird Kapitän eines klapprigen Bananenfrachters und hat damit den Gipfel der Karriereleiter erreicht. Lächerlich genug, nicht? Aber die meisten von ihnen werden Obstbauer oder Fischer, wie ihre Eltern und deren Eltern.«
»Davon scheinen Sie nicht viel zu halten.«
»So könnte ich nie leben«, gab Ane unumwunden zu.
»Das weiß man nicht. Vielleicht, wenn Sie sich in einen jungen Obstbauern verlieben …«
»Niemals! Der Mann, den ich heirate, muss erfolgreich und weltgewandt sein.«
Die nächste Frage brannte Evelyn auf der Zunge, sie musste sie einfach loswerden. »Sie meinen Ray?«
Ane verzog das Gesicht, als würde sie einen Magenbitter
trinken. »Na ja, er ist ein bisschen alt für mich, finden Sie nicht? Fünfunddreißig.«
»Das müssen Sie beide entscheiden.«
Ane zögerte. Ein feiner Sprühregen der Gischt wehte vom Meer herüber und benetzte ihre Haut. Sie strich sich eine Strähne ihrer seidig schwarzen Haare aus der Stirn. »Das hört sich jetzt vermutlich kühler an, als ich es meine: Raymond hat Beziehungen. Er wird mir helfen, Model zu werden. Mir bleiben nicht mehr viele Jahre dafür, mit dreißig ist die Karriere vorbei.« Sie schnalzte mit den Fingern. »Schnipp. Einfach so. Ich muss mich also ranhalten. Raymond ist meine Chance. Sie wissen schon, was ich meine.«
Evelyn konnte es sich vorstellen.
»Wenn er nur nicht aus Wyoming käme«, fügte Ane hinzu. »Aber wenn wir schon dabei sind … Ich muss noch etwas anderes, Raymond betreffend, mit Ihnen besprechen.«
»Mit mir? Über Ray Kettner?« Evelyn war es nicht unlieb, über ihn zu sprechen, stellte sie fest.
»Na ja, mir ist aufgefallen, dass Ili Sie offenbar mag. Sie sitzt nicht mit jedem Gast stundenlang auf der Veranda und erzählt ihre Geschichten, das können Sie mir glauben. Deswegen sind Sie auch die Richtige, Ili davon zu überzeugen, den Papaya-Palast zu verlassen. Sie sind eine neutrale Person, Evelyn, genau das macht Sie zur idealen …«
»Halt, halt«, unterbrach Evelyn. »Ich komme nicht ganz mit. Verstehe ich Sie richtig: Ili soll ausziehen ?«
»Exakt.«
»Aber warum, um alles in der Welt?«
»Zunächst einmal, weil sie alt ist. Sagen Sie mir nicht, dass in Ihrer Heimat alte Leute bis zuletzt zu Hause bleiben. Sie gehen in ein Heim, wo sie Zuwendung und Gesellschaft haben. Wo man auf sie aufpasst. Wo sie zusammen spielen können. Wo sie Freundschaften schließen. Wo …«
»Ich habe Sie verstanden«, unterbrach Evelyn die Aufzählung
der segensreichen Wohltaten eines Seniorenheims, die genauso gut zu einem Kindergarten gepasst hätten. »Das alles ist gut und schön, aber die oberste Regel sollte lauten, dass der- oder diejenige diesen Wechsel in ein Heim auch will – oder zumindest einsieht. Ili scheint den Wechsel nicht zu wollen.«
»Exakt.«
»Und nicht einzusehen.«
»Leider«, seufzte Ane. »Dabei will ich doch nur das Beste für sie.«
»Wenn Sie mich fragen, ist das
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