Der Duft der grünen Papaya
ihren Arm perlte. In der Dunkelheit um den Papaya-Palast war er fast unsichtbar, aber seine Melodie erfüllte die Luft, und er entlockte den Wildblumen Savaiis ihre vollen Düfte, süßes Parfüm wie das von Rosen und Pelargonien.
Das Meer war nur eine Ahnung, eine undurchdringliche schwarze Masse unter einem sternenlosen, verhangenen
Himmel. Und doch war es zu spüren. Ein fast unmerklicher Wind fächelte, der nach Ozean schmeckte, und die Wasseroberfläche rauschte unter dem milden Tropenguss und gab eine Vorstellung von ihrer Dimension. All diese Gerüche und Geräusche hatten etwas unendlich Friedvolles, ja, Paradiesisches. Hier fügte sich eins zum anderen, alles passte zusammen, war natürlich und echt, beinahe kitschig in seiner Perfektion, wäre da nicht die Hölle in den Köpfen der Menschen.
Vierundzwanzig Stunden, dachte Evelyn. Nur einen Tag nach ihrer Ankunft hatte sich dieser Garten Eden in einen Abgrund verwandelt, angefüllt mit Hass, Wut, zerstörtem Vertrauen, Geldgier und Egoismus, überrollt von irgendeiner dunklen Vergangenheit, deren Tote bis heute die Herzen der Frauen des Papaya-Palastes beherrschten. Man konnte meinen, sie habe die Verzweiflung eingeschleppt wie eine Epidemie, mitgebracht aus ihrem Frankfurter Haus, über das der Tod genau wie über den Papaya-Palast seinen Schatten geworfen hatte.
Doch das war alles Unsinn, überspannte Fantastereien. Was ihr widerfahren war, stand in keinem Zusammenhang mit den Geschehnissen auf Savaii. Was hatte sie schon mit diesen Leuten zu tun? Was musste es sie kümmern, ob Ili eine Mörderin war? Was konnten ihr Tristan, Tuila und Tupu bedeuten und was Anes Vater? Gut, sie hatte sich dafür zu interessieren begonnen, aus Verwunderung darüber, wie etwas aus einer fernen Vergangenheit noch immer Einfluss nahm auf die Schicksale der heute lebenden Menschen, und weil sie Ili gemocht hatte, sowohl als Mensch wie auch als Verkörperung einer Familiengeschichte. Doch was hatte ihr dieses Interesse eingebracht? Kränkung und Unruhe, nichts anderes. Und einen weiteren Abend voller Tränen.
Was hatte sie hier verloren? Wie hatte sie überhaupt auf
den irren Gedanken kommen können, einem inneren Schatten mittels eines Flugzeuges zu entkommen?
Grau, das war die beste Beschreibung für den Zustand, in dem sie sich seit vier Jahren befand. Grau waren die Tage gewesen, die Abende, die Wohnung, die Gespräche, der Garten, Frühstück und Abendessen, Geldausgeben und Geldeinnehmen, Kinofilme und Musik, alles grau. Bedeutungslos. Freudlos. Die Bücher, die sie gelesen hatte, hatte sie nicht wirklich gelesen, sie hatte manchmal auf der letzten Seite schon nicht mehr gewusst, worum es eigentlich gegangen war. Die politischen Nachrichten waren vor ihr abgelaufen, ohne dass sie Aufmerksamkeit erzeugt oder gar Gefühle hervorgerufen hätten. Was in ihrer Firma vor sich ging, hörte auf, sie zu interessieren, und es war dort nur deshalb noch nicht zur Katastrophe gekommen, weil ihre Partnerin Bianca alles zusammenhielt. Sie nahm noch nicht einmal ein Viertel der Aufträge an, die sie vor vier Jahren bewältigt hatte, doch selbst die wurden ihr schon zu viel.
Ihre Darmstädter Schwiegereltern, von denen sie nie gemocht, aber wenigstens respektiert worden war, verloren als Erste die Geduld mit ihr. Wenn sie einmal im Monat auf einen Kaffee vorbeikamen, würdigten sie Evelyn kaum eines Blickes und sprachen nur das Nötigste mit ihr. Dafür sprachen sie umso mehr von ihr – sobald sie mal kurz aus dem Zimmer ging. »Mein Gott«, stöhnte ihre Schwiegermutter mit verdrehten Augen und gewohnheitsmäßiger Routine. »Die ist ja immer noch so. Dabei ist es doch schon so lange her, das Unglück.«
Unglück, ja, so nannten sie es immer in ihrer täppischen Art. Sie waren in einer Zeit geboren worden, in der es ums nackte Überleben gegangen war, hatten in den Fünfzigern und Sechzigern hart, ja, sehr hart gearbeitet und nebenbei noch drei Kinder großgezogen. Für langes Zurückblicken
hatten sie keine Zeit gehabt, und so konnten sie sich einfach nicht vorstellen, dass es Wunden gab, die sich nicht schlossen, dass Haus, Arbeit und Rentenversicherung noch kein Garant für Glück waren. »Glück«, stöhnte ihre Schwiegermutter gerne. »Glück! Wenn ich das schon höre. Wenn ich dich erzogen hätte, Mädchen« – sie hob dabei die Hand –, »dann würdest du nicht so einen Quatsch erzählen von wegen Glück.«
Eines Tages brachte ihre Schwiegermutter es auf den Punkt.
Weitere Kostenlose Bücher