Der Duft der grünen Papaya
was? Arme Evelyn! Wo Sie doch im Grunde gar nichts dafür können! Ich verstehe natürlich, wenn Sie nach diesem Vorfall nicht länger bei Ili wohnen wollen. Selbstverständlich bringe ich Sie nachher zur Fähre, ich wollte sowieso nach Apia fahren, mit Ray ein bisschen feiern. Nehmen Sie’s nicht schwer. Das Zimmer im Bongo Beach Club ist bestimmt noch frei, dort können Sie es sich gut gehen lassen. Die haben eine Poolbar – vom Feinsten, sage ich Ihnen. Wenn wir in einer Stunde aufbrechen, schaffen wir die Fähre bequem. Dann sind Sie uns alle und den Papaya-Palast für immer los.«
Nicht einmal Anes gedankenlose Art, die falschen Dinge zur falschen Zeit zu sagen, konnte Evelyn jetzt noch ärgern. Es war, als habe ihr jemand ein Brett vor den Kopf gehauen.
»Ich weiß noch nicht, ob ich ausziehe«, brachte sie halblaut hervor.
»Sie überlegen, hier zu bleiben?« Ane zuckte mit den Schultern. »Na ja, wenn Ihnen das nicht peinlich ist! Ich würde ja im Erdboden versinken, wenn mir jemand solche Sachen an den Kopf werfen würde, ehrlich. Ich finde, Ili war ziemlich gemein.«
»Ja, so ist sie«, meldete sich plötzlich Moana aus ihrem Stuhl zu Wort, mit einer Stimme, als würden zwei Gitterstäbe aneinander reiben. »Heute hat sie mal wieder ihr wahres Gesicht gezeigt. Sie tut immer so lieb und nett, solange es nach ihrem Willen geht. Aber wehe, etwas läuft gegen sie, dann kennt sie keine Rücksicht mehr. Sie ist übel, eine Verbrecherin. Wenn es um das Land geht, kennt sie
keine Freundschaft und keine Verwandtschaft. Niemand ist dann vor ihr sicher.«
Evelyn rieb sich die Stirn. Sie wollte nur noch auf ihr Zimmer, allein sein.
Weinen.
Nachdenken.
Sie war auf dem emotionalen Tiefpunkt ihres Lebens angekommen, und sie wusste, dass sie dort nicht bleiben durfte, dass sich etwas ändern musste. Und sie wusste, womit sie anfangen würde.
»Das scheint mir ziemlich übertrieben«, murmelte sie kraftlos und wollte, mit sich selbst beschäftigt, den Raum verlassen.
»Übertrieben?« Moana stemmte sich aus dem Stuhl und ging einen Schritt auf Evelyn zu. »Was wissen Sie schon von Ili! Nur weil Sie mit ihr Tee getrunken haben, glauben Sie, sie zu kennen. Aber Sie täuschen sich in ihr. Ane, sag dieser Frau, was Ili uns angetan hat.«
»Bitte nicht, Großmutter.«
Evelyn schüttelte den Kopf. »Lassen Sie nur, Ane. Ich wollte sowieso gerade gehen.«
Moana hielt sie am Arm zurück. »Sie bleiben noch. Ane, sag es.«
»Großmutter, lass es gut sein.«
»Sag es ihr! Sag, was diese Person verbrochen hat.«
»Großmutter …«
»Auf der Stelle!« , zischte Moana.
Ane mied Evelyns Blick und senkte den Kopf. Sie rang noch einige Augenblicke mit sich, dann sagte sie dumpf und fast widerstrebend: »Ili ist schuld am Tod meines Vaters.«
»Schuld!«, schrie Moana mit einer Kraft, die Evelyn ihr nicht zugetraut hatte. »Das hört sich ja an, als habe sie einen Hund überfahren. Sie ist mehr als nur schuldig. Sie hat deinen Vater getötet, vor zehn Jahren, mit eigener Hand.«
Und dann krallten Moanas Finger sich in Evelyns Arm. »O ja! Ili Valaisi ist die Mörderin meines Sohnes. Die Mörderin, die Mörderin …«
Noch jetzt, Stunden später, lief es Evelyn kalt den Rücken runter, wenn sie sich an den ehrlichen Zorn, den Hass erinnerte, der in Moanas Augen geglüht hatte. Eine innere Stimme hatte sie gewarnt, sich in diese Familienangelegenheit einzumischen. Doch sie hatte die Stimme ignoriert. Sie hatte es nur gut gemeint, und nun war sie in etwas hineingeraten, das ihr nichts als Schwierigkeiten eingebracht hatte. Als habe sie davon nicht schon genug. Mitten hinein in die Zerstörung anderer Existenzen zu geraten und in einen Zwist, bei dem alles Üble und Hässliche hochkochte, was seit Jahrzehnten unter einem Deckel brodelte, war das Letzte, was sie brauchte.
Mittlerweile war es längst dunkel geworden. Evelyn konnte nicht schlafen. Sie hatte am Abend nichts gegessen, im Zimmer war es schwülwarm, und Kopfschmerzen plagten sie ebenso wie Selbstvorwürfe. Die letzte verbliebene Flasche Weißwein hatte sie in einem Anfall von Wut über sich selbst entkorkt und aus dem Fenster gegossen. Nun schlurfte sie, nur mit Unterwäsche und Carstens langem, eisgrünem Hemd bekleidet, auf die vordere Veranda hinaus. Dort lehnte sie sich gegen einen Pfosten und blickte in die blauschwarze Nacht. Ein leichter Regen prasselte auf die Blätter, der, wenn sie die Hand ausstreckte, warm und erfrischend zugleich über
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