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Der Duft der Mondblume

Der Duft der Mondblume

Titel: Der Duft der Mondblume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Di Morrissey
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konnten. Erst dann konnte Eleanor einschätzen, was überhaupt noch zu retten war.
    Düster sagte sie: »Ich weiß nicht, woher ich die Kraft nehmen soll, noch einmal von vorn anzufangen.«
    Als Eleanor und Catherine gerade überlegten, was gerettet und wiederhergestellt werden konnte und was nicht, kam Beatrice.
    »Wir könnten bestimmt bei ihr unterschlüpfen«, sagte Catherine zu Eleanor.
    »Ich kann das hier nicht einfach zurücklassen. Ich muss hierbleiben«, erwiderte Eleanor. Doch dann fiel ihr Blick auf das ernste, traurige Gesicht von Beatrice, und sie hielt inne.
    »Was ist passiert? Was denn noch?«, fragte sie erschüttert.
    »Abel John.«
    »Wo ist er?«, wollte Catherine wissen. »Ist er wieder zu Hause?«
    Beatrice schüttelte den Kopf. »Es wurden drei Leichen angespült.« Sie zögerte und fuhr dann fort: »Abel John ist tot. Offenbar hat er versucht, ein paar eingeschlossene Jugendliche zu retten. Sie sind alle tot.«
    Der Aufschrei Eleanors und Catherines entsetztes Stöhnen ließen Beatrice verstummen.
    »O nein. Nein. Die arme Familie!«, rief Catherine.
    Bedrückt sah Beatrice die beiden Frauen an. »Ich hatte so eine Vergeltung nicht gewollt. Welch ein großer, großer Verlust.«
     
    Es herrschte tiefe Trauer. Dennoch schien weiterhin die Sonne, der Himmel war ungetrübt blau, das Meer ruhig und glatt, und Urlauber faulenzten in der vermeintlichen Postkartenidylle unter den sich wiegenden Palmen. Aber auf der anderen Seite der Insel waren die Tränen noch nicht getrocknet. Der Tod des großen, starken, freundlichen Abel John, den alle geschätzt und gemocht hatten, war schwer zu ertragen.
    Trauergäste, Freunde und Familienangehörige versammelten sich nachmittags an seinem Lieblingsstrand, von dem aus er zu seiner letzten Reise aufbrechen sollte. Es war ein reiner Surfstrand, ohne Häuser oder auch nur Duschen. Vom frühen Morgen an hatten Freunde das wilde Gestrüpp und die Kiavebüsche gelichtet, Grasdächer errichtet und Kapa-Matten zum Sitzen und für das Essen ausgelegt. Frauen hatten verschiedene Gerichte vorbereitet, und die Kinder hatten ganz leise gespielt, erfüllt von dem Ernst dieses Tages.
    Der Kahuna würde die Zeremonie vollziehen. Alle Musiker, die spielten, waren mit Abel John befreundet gewesen. Seine Surffreunde aus dem
Nirvana
kamen mit ihren Boards, und überall lagen Blumen und Leis. Helena saß in einem Muumuu in gedeckten Farben still und gedankenversunken da. Sie hielt das jüngste Kind im Schoß, die anderen kauerten dicht bei ihr und machten keinen Mucks. Ein Tieflader mit Kanus traf ein, und als sie abgeladen waren, nutzten die Musiker die Ladefläche als Bühne. Beatrice, Lani und ihre Familien sowie ein Gefolge aus Freunden von Abel John nahmen ihre Plätze neben Helena ein. Als die Sonne zu sinken begann, säumten Hunderte Menschen den Strand, und der Kahuna bat Abel Johns Familie und Freunde zu sich. Alle verfielen in Schweigen.
    Nun gab der Kahuna das Zeichen, die Zeremonie zu beginnen, und der älteste Sohn von Abel John trat vor. Er trug den roten Lavalava seines Vaters, in der Taille aufgerollt, damit er nicht darüberstolperte, dazu dessen Halskette aus Kukuinüssen und das große Muschelhorn, das sein Vater immer zu Beginn der Fackelzeremonie im Palm Grove geblasen hatte.
    Der Kahuna nickte dem Jungen zu und lächelte ermutigend. Alle hielten den Atem an, als wollten sie mit ihrer eigenen Atemluft die Lungen des Jungen stärken, damit er kräftig genug ins Muschelhorn blasen und ihm einen Ton entlocken konnte. Und von irgendwo aus seinem schmalen Brustkorb brach sich etwas Gewaltiges Bahn – als explodiere all der Schmerz, die Traurigkeit und die Bürde, der Sohn seines Vaters zu sein. Seine Brust hob sich, seine Wangen blähten sich, sein Gesicht wurde ganz rot, als aus dem zum Himmel gerichteten Horn ein gewaltiger, trauriger Ruf ertönte, der die Erde unter ihnen erzittern ließ und durch die Fußsohlen der Anwesenden bis in ihre Herzen drang. Solange er konnte, eine schier unmögliche Zeitspanne, hielt der Junge den Ton, dann ging ihm die Luft aus, und der Ruf des Muschelhorns verklang. Er ließ das Instrument sinken und wartete mit gesenktem Kopf, bis noch der letzte Nachhall verweht war.
    Die Stille wurde von den Männern durchbrochen, die jetzt aufstanden und eine alte Weise anstimmten. Sie würdigten damit einen großen Mann, einen guten Mann und riefen ihre Stammeshäuptlinge und Götter an, Abel John bei sich aufzunehmen und ihn zu ehren.

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