Der Duft der roten Akazie
der Tasche seines Fracks und schoss sie mitten ins Herz.
12
Der Schrei dauerte an und mischte sich mit dem Echo des Schusses in ihrem Kopf. Ella riss sich mühsam aus ihrem Traum. Er war so wirklich gewesen, dass er sich nur schwer abschütteln ließ. Die Hälfte von ihr befand sich noch in dem von Kerzen erhellten Ballsaal. Doch dann knurrte Wolf neben ihr, und sie war wieder in Paddy’s Gully auf den Goldfeldern von Bendigo. Die Schreie in der Dunkelheit waren eindeutig nicht Teil eines Traums.
Wieder gellten sie durch die Nacht und durchschnitten die Stille wie ein Rasiermesser. »Hilfe! Bei Gott, helft mir!« Die schrecklichen Schreie verstummten, und das Schweigen, das darauf folgte, war beinahe genauso grausig. Die fünf Goldgräber kamen aus ihrem Zelt gestolpert und murmelten schlaftrunken Fragen. Hunde bellten. Als Ella unter dem Karren hervorkroch, sah sie Adam vor dem heruntergebrannten Feuer stehen.
»Was ist passiert?«, flüsterte sie.
Wieder ertönte ein Schrei. »Ich bin in einem Loch. Helft mir! Helft mir!«
»Was ist los?« Kitty stand hinter ihnen und schlang zitternd die Arme um den Leib.
»Offenbar ist eine Frau in einen der alten Grubenschächte gefallen«, erwiderte Adam mit finsterer Miene.
»Oh nein!« Erschrocken schnappte Ella nach Luft. »Können wir etwas für sie tun?«
Er grinste. »Klar. Wir können sie rausholen.« Im nächsten Moment war er in der Dunkelheit verschwunden und nicht mehr zu sehen.
Erneut schrillte ein Schrei durch die Luft. Ella zitterte. Sie hatte ein deutliches Bild vor Augen – eine Frau, ganz allein im kalten, schwarzen Wasser. »Oh Gott, wie entsetzlich«, flüsterte sie. »Adam sagt, einige dieser Löcher sind bis zu drei Metern tief. Was, wenn sie ertrinkt, bevor sie sie retten können?«
Kitty zuckte gleichmütig die Achseln. »Sie hätte eben besser aufpassen sollen, wo sie hintritt.«
Entgeistert starrte Ella sie an.
»Was geht es uns an?«, rechtfertigte sich das Mädchen. »Es ist besser, die anderen sich selbst zu überlassen. Wir haben schließlich unsere eigenen Probleme.«
Plötzlich kam Ella die Erkenntnis, dass Kitty ihr hartes Leben nur hatte überstehen können, indem sie sich hinter einer undurchdringlichen Schutzschicht verschanzte, die Mitgefühl für andere ausschloss. Ella hingegen wusste, dass das unmöglich für sie war. Wie sollte sie sich wieder ins Bett legen, während ein Mensch ertrank? Und noch dazu eine Frau! Das sogenannte schwache Geschlecht war auf den Goldfeldern ohnehin in der Minderheit. Also musste sie etwas tun, um ihrer Geschlechtsgenossin beizustehen.
Ella machte einen Schritt in die Dunkelheit hinein.
»Wo wollen Sie hin?«, fragte Kitty.
»Ich möchte versuchen zu helfen.«
Kitty sah sie gleichgültig an. »Wahrscheinlich werden Sie nur selbst in ein Loch fallen«, meinte sie mit einem leisen Auflachen.
Zornig marschierte Ella in die Richtung, aus der die Schreie gekommen waren. Doch als sich ihr Ärger nach einigen Metern gelegt hatte, wurde ihr klar, dass Kitty recht hatte. Es war nicht leicht, sich nachts auf den Goldfeldern zurechtzufinden, und Paddy’s Gully war ganz besonders gefährlich.
Ella zögerte und war versucht umzukehren. Aber die schreckliche Vorstellung, wartend herumzusitzen, ohne zu wissen, was geschehen war, sorgte dafür, dass sie vorsichtig weiterging. Durch die schweren Regenfälle war der Boden glitschig geworden. Die Schlucht war von Senken und Wellen durchzogen, und es wimmelte von aufgegebenen Grubenschächten. Ein falscher Schritt, und Ella würde sich in derselben misslichen Lage befinden wie die Frau, der sie eigentlich helfen wollte.
Ein Nachtvogel stieß einen einsamen Ruf ein. Ein Nieselregen, eher ein Nebel, senkte sich über die Goldfelder, sodass Ella bald bis aufs Mark fror. Ein Stück voraus verhieß ein einsames Zelt Schutz. Aber als sie sich näherte, ertönte hinter der Zeltbahn eine feindselige Stimme, die wissen wollte, wer sie war, und ihr Gewalt androhte.
Erneut zögerte sie und wollte aufgeben, als sie einen Lichtschein bemerkte. Sie spähte in die Dunkelheit. Hörte sie wirklich Stimmengewirr, oder war es nur Wunschdenken?
Als Ella sich weiter vortastete, stellte sie fest, dass sie ihr Ziel tatsächlich erreicht hatte. An einer Stange, die jemand hoch in die Luft reckte, war eine flackernde Laterne befestigt. Ein paar Männer hatten sich im Kreis geschart. Das schwache Licht beleuchtete breitkrempige Hüte und bärtige Gesichter. Wieder ertönte ein
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