Der Duft des Anderen
und es stank. Dann sah er die Hand, die aus der Mülltonne ragte. Entsetzt stellte er die Kiste mit Flaschen ab und lüftete vorsichtig den Deckel. In die verschmierte Tonne gepresst kauerte ein Mensch, blutüberströmt, den Mund mit Papier verstopft. Er stöhnte, also lebte er noch. Allein bekam der Wirt ihn nicht heraus, er musste Hilfe holen. Drei Männer zogen den zusammengestauchten Mann aus dem engen Gefäß, der dabei vor Schmerzen schrie. Vorher hatte der Wirt ihm den Papierknebel aus dem Mund genommen. ›50.000 DM‹ stand auf dem blutverschmierten Zettel.
28
Das Verschwinden Saschas war erklärlich, er war in seine weibliche Existenz zurückgekehrt. Stephans Verschwinden war eine andere Sache. Nach einer Woche gab Rudi eine Vermisstenanzeige auf. Die Polizei entwickelte keinen übermäßigen Eifer bei einem vermissten Schwulen. Man kannte ja deren Lebensweise! Und da Rudi nicht einmal ein Angehöriger war, verschwand die Vermisstenanzeige rasch unter einem hohen Papierstapel und endete schließlich in der Ablage. Nach vier Wochen erhielt Rudi ein Schreiben, dass die Nachforschungen eingestellt worden seien.
Nachforschungen, die sie niemals angestellt haben
, dachte Rudi ergrimmt, und beauftragte einen Privatdetektiv. Der stellte fest, dass Stephan seine Wohnung überhastet verlassen haben musste und keineswegs vorgehabt haben konnte, ein paar Wochen bei einem Freund zu verbringen. Alle seine Sachen, außer denen, die er angehabt hatte, hingen noch im Schrank. Der Kühlschrank war voll, das Essen war inzwischen verschimmelt. Er hatte die Tageszeitung nicht abbestellt und auch keinen Freund gebeten, für ihn den Briefkasten zu leeren. Er war mitten in der Nacht aufgebrochen, während sein Freund geschlafen hatte, offensichtlich mit dem Wagen, und dann war er zu seinem Laden hinausgefahren, denn dort stand sein alter Benz. Hier verlor sich jede weitere Spur.
Mit diesen Ergebnissen ging Rudi noch einmal zur Polizei und erstattete Anzeige gegen unbekannt. Er war davon überzeugt, dass man Stephan ermordet hatte. Nun konnte die Polizei nicht mehr untätig bleiben, und es erwischte den armen Manrico. Seine Aussage, er habe geschlafen und nichts gemerkt, wurde plötzlich infrage gestellt. Er war der Letzte, der Stephan lebend gesehen hatte, und er war sein Lover, wie man so sagte. Da es weder ein anderes Motiv noch eine andere Spur gab, war die Sachlage für die Polizei klar: Mord aus Eifersucht. Weil es keine Leiche gab, blieb Manrico die Untersuchungshaft erspart, der Verdacht jedoch blieb an ihm hängen. Es nutzte ihm wenig, dass er auf einen geheimnisvollen Sascha hinwies, auf den Stephan ganz scharf war, wie Manrico sich ausdrückte, mit dem er hundertprozentig ein Verhältnis hatte und – nun kam es, der in Wirklichkeit eine Frau war.
»Ist Ihr Freund nicht homosexuell?«
»Er hat es doch selber nicht gewusst.«
Die Polizisten sahen sich an und grinsten ganz gemein. »Muss ja eine heiße Affäre gewesen sein mit den beiden.« Dann fragten sie das Übliche, wie diese Frau heiße, wo wie wohne? Und weshalb er darüber Bescheid wisse, aber sein Freund Stephan nicht?
Er wisse es von einem anderen Freund, einem gewissen Luigi. Aber Luigi verhedderte sich hoffnungslos in Widersprüche, weil er den Club auf keinen Fall mit hineinziehen wollte, und so hielt die Polizei alles für einen schlechten Scherz. Die Akte Stephan blieb unerledigt, nach einem Sascha wurde nicht gefahndet.
***
Der September brachte Sonnenschein und einen herrlichen Altweibersommer, der Oktober kalten Regen und der November frühen Schnee. Die länger werdenden Abende strebten dem Sonnenwendfest entgegen: Weihnachten. Manche feierten auch Christi Geburt. Aber die meisten schienen ihr Weihnachtsgeld zu feiern, das Ende November auf den Konten war. Am Samstag vor dem ersten Advent glich die mit Lichterketten und Tannenbäumen geschmückte Innenstadt einem riesigen Jahrmarkt. Mitten auf der Alster stand wie jedes Jahr eine riesige Schwedentanne. Weihnachtsmärkte überall. Rund um die Petrikirche, auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz und auf dem Rathausplatz. Weihnachtsliederbeschallung verhalf zu dem beglückenden Gefühl: Oh du fröhliche, stille Nacht, wie leise rieselt der Schnee. Man konnte Glühwein trinken und Pfefferkuchen vom September kaufen. Die Kinder fuhren Karussell, und die Glöckchen an den Holzpferden klingelten wie die Schellen in regis curia. Studenten mit langen Wattebärten und roten Mänteln setzten kleine Kinder auf
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