Der Duft des Blutes
Bahnsteig. Ein paarmal sah sie sich noch um, als sie die Rolltreppe hinauffuhr und dann über den Bahnhofsplatz eilte, doch sie konnte den schwarzhaarigen Typen nirgends entdecken.
„Du spinnst!", schalt sie sich selber.
In einigem Abstand folgte Peter von Borgo der Kommissarin durch den Steintorweg und die Bremer Reihe. Sie bog nicht in Richtung Alster ab, sondern folgte der Brennerstraße bis fast zu ihrem Ende. Sabine Berner strebte einem vom Zahn der Zeit angenagten Klinkerbau zu. Neben der Eingangstür wies ein Schild: Zentralambulanz für Betrunkene, Eingang im Hinterhof zu einem Nebengebäude des Krankenhauses St. Georg, die Kommissarin jedoch stemmte die quietschende Tür des Eckhauses auf und stieg die ausgetretene Linoleumtreppe zum „Ragazza" hoch.
„Hallo, Frauke", grüßte sie die Krankenschwester im weißen Kittel, die, in der einen Hand ein Bündel Einwegspritzen, in der anderen Verbandsmaterial, den Flur entlangkam. „Weißt du, wo Ingrid ist?"
Die Schwester sah auf ihre Armbanduhr. „Ingrid hat noch eine halbe Stunde Dienst im Konsumraum. Willst du so lange einen Tee trinken? Geh doch einfach in die Küche. Ich habe noch ein paar Klientinnen zu verarzten."
Sabine Berner nickte. Sie warf einen Blick ins Cafe, in dem sich ein knappes Dutzend Frauen versammelt hatten.
Die meisten waren jung, doch ihre Gesichter vom Leben auf der Straße gezeichnet. Eine Mitarbeiterin tauschte ihnen die gebrauchten Spritzen aus, im Nebenraum schliefen zwei Frauen auf den verblichenen Polstermöbeln.
„Ach, Frau Berner", rief eine der Mitarbeiterinnen aus der Küche. „Trinken Sie einen Tee mit uns?"
Sabine hatte die zweite Tasse Rooibostee gerade geleert, als Ingrid Kynaß in die Küche trat. Zwei Jahre arbeitete die Sozialpädagogin nun schon für den Verein „Ragazza", der drogenabhängigen Prostituierten nicht nur einen Treffpunkt und warmes Essen zur Verfügung stellte, sondern auch Beratung und ärztliche Hilfe anbot. Mit einem Lächeln nahm Ingrid Kynaß einen dampfenden Becher entgegen.
„Danke, das brauche ich jetzt." Sie schnitt eine Grimasse. „Nee, die Arbeit im Konsumraum gehört nicht zu meinen Favoriten." Sabine schwieg. Den Sinn eines Konsumraumes, in dem die Frauen unter Aufsicht einer Mitarbeiterin sich ihren Schuss setzen oder ihre Crackpfeife rauchen konnten, hatten sie schon ausführlich durchdiskutiert. Draußen auf dem Flur wurden Stimmen laut.
„Ich geh doch nicht zu den Polypen!", rief eine Frau aufgebracht. Eine ruhige Stimme antwortete ihr. Dann wieder die aufgeregte Besucherin.
„Klar bin ich sicher. Wenn sie die Biege gemacht hätte, dann wäre ihr Zeug doch weg und würde da nicht so rumliegen, oder?"
Ingrid erhob sich und trat in den Gang hinaus, Sabine folgte ihr.
„Was ist denn hier los?", wandte sie sich an die junge Frau in Jeans und Pulli.
„Ich hab das Tanja gerade schon gesagt. Ronja ist weg und die Kleine auch, schon seit vier Tagen. Da stimmt was nicht. Bestimmt hat der Holger, dieser Arsch, ihr eine über den Kopf gezogen."
Ingrid Kynaß hob die Hände. „Langsam, Nadine, wer ist Ronja, und warum sollte der Holger -wer auch immer das ist -ihr eine über den Kopf gezogen haben?"
Die junge Frau räusperte sich genervt. „Ronja heißt eigentlich Edith Maas, doch das ist nicht gut fürs Geschäft. Sie schafft für den Holger an, in 'ner piekfeinen Modellwohnung. Ihre Kleine ist sechs und heißt Lilly. Die wohnt jetzt bei ihr, seit Ronjas Mutter im Heim ist. Und von beiden hab ich seit vier Tagen nicht 'nen Faden mehr gesehen. Ich war bei Ronja, wir waren ja verabredet. All ihr Zeug ist noch da." Nadine errötete leicht und zog dann geräuschvoll die Nase hoch. „Ich sag, der ist was passiert."
„Ich habe ihr geraten, eine Vermisstenanzeige aufzugeben, doch Nadine will nicht zur Polizei gehen", mischte sich Tanja ein, die erst seit Kurzem für „Ragazza" arbeitete.
Die Kommissarin musterte die junge Frau. Sie war groß, mager, das Gesicht eingefallen und gelblich, das fettige braune Haar hing strähnig herunter. Sie trug einen schmutzigen Pullover, zerrissene Jeans und klobige Turnschuhe.
Lilly Maas, der Name klang bekannt in ihren Ohren. Sabine runzelte die Stirn. Richtig, der Anruf der Lehrerin, die sich beklagt hatte, dass das Kind schon wieder nicht zur Schule gekommen war.
Spätabends, als sich Sabine Berner unter ihre warme Decke kuschelte, dachte sie immer noch an das sechsjährige Mädchen und ihre Mutter, die Hure, die sich Ronja nannte.
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