Der Duft des Blutes
Doch wer hatte es geöffnet? Ronja? Hatte sie einen Teil der Tabletten an sich genommen und war sie deshalb ermordet worden? Nein, Sandra hatte ausgesagt, das Paket sei verschlossen gewesen, als sie zum ersten Mal in der Wohnung war. Hatte sich Ronjas Freundin Nadine an den Drogen vergriffen, nachdem Ronja verschwunden war? Wer hatte das Paket in Ronjas Wohnung deponiert? Und vor allem, wer hatte es nach ihrem Verschwinden dort wieder abgeholt? War Ronja nicht nur Callgirl gewesen, hatte sie auch mit Drogen gehandelt? Sabine wiegte den Kopf hin und her. Unwahrscheinlich, aber immerhin möglich. Selbst Drogen genommen hatte die ermordete Prostituierte jedenfalls nicht, das hatte die Obduktion ergeben. Vielleicht wäre es ratsam, sich mit Nadine Horvac noch einmal ausführlich zu unterhalten. Die Kommissarin sah auf die Uhr. Sie hatte keinen Dienst, doch ein Besuch im „Ragazza" konnte nicht schaden.
Es war einer jener Sonnentage, die einen mit dem Herbst versöhnten. Nachdem sich die Nebelschwaden verzogen hatten, strahlte die Sonne von einem tiefblauen Himmel und wärmte die Leiber und Seelen. Sabine Berner beschloss, erst eine Runde an der Alster endang zujoggen, ehe sie sich auf die Suche nach der jungen Prostituierten machte. Es war sicher sowieso noch zu früh, um sie in halbwegs wachem Zustand anzutreffen. In Laufhosen und einer leichten Windjacke, das Haar hochgebunden, lief Sabine zum Ufer hinunter. Es herrschte Hochbetrieb. Jeder Hamburger, der etwas auf sich hielt, war heute an der Alster oder unten am Strand bei Ovelgönne unterwegs. Ein buntes Treiben aus Müttern und Vätern mit Kinderwagen, knallbunten Joggern, Hunden jeder Rasse und Größe, Rentnergrüppchen und verliebten Pärchen wand sich um die Außenalster.
Sabine atmete tief durch. Die Luft war angenehm mild, die Sonnenstrahlen wärmten ihren Nacken. Der gleichmäßige Takt ihrer Füße schickte ihre Gedanken auf Wanderschaft.
Peter Mascheck, der sich von Borgo nannte, tauchte schemenhaft auf, doch sie konnte seine Gesichtszüge nicht fassen. Was war es, das sie so faszinierte, dass er ihr die ganze Nacht in ihren Träumen nicht von der Seite gewichen war? -Er hat etwas Geheimnisvolles an sich. -Die Kommissarin schüttelte unbefriedigt den Kopf. Das ist zu allgemein. Was ist ungewöhnlich an ihm? -Sein Aussehen? Hm. Seine Art zu sprechen? Seine so übertrieben höflichen Umgangsformen? Vielleicht sein herrliches Klavierspiel? Sicher auch. Es gab so viele Fragen. Warum hatte er den Namen gewechselt? Warum war er nirgends gemeldet? War er doch der unheimliche Verfolger? Hatte er etwas mit den Morden zu tun? War sie dabei, einem Psychopathen in die Falle zu tappen?
Erhitzt und schweißnass machte sie sich auf den Rückweg. Sie verzichtete darauf, erst nach Hause zu gehen, um sich unter die Dusche zu stellen, sondern lief direkt in die Brennerstraße zum „Ragazza". Ingrid Kynaß begrüßte sie erfreut.
„Komm rein und setz dich. Ich mach uns einen Tee."
Die Kommissarin ließ sich auf einen Hocker sinken. „Ich bin nichts mehr gewöhnt", schnaufte sie und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Wem sagst du das?", seufzte Ingrid und stellte den Wasserkocher an. „Ich komme zu gar nichts mehr. Ich habe mir schon überlegt, mich über den Winter in einem Fitnessstudio anzumelden." Sie zog die Oberlippe hoch. „Aber eigentlich habe ich keine Lust auf Folterkammer."
„Meine Rede. Da kriegen mich keine zehn Pferde rein!"
Erst als die beiden Frauen vor ihren dampfenden Tassen saßen, fragte die Kommissarin nach Nadine. Ingrid Kynaß stützte die Ellenbogen auf den Tisch und lehnte ihre Wange an die heiße Tasse.
„Ich habe sie, glaube ich, am Freitag zum letzten Mal gesehen. Gestern war ich nicht hier, und heute ist sie noch nicht aufgetaucht. Willst du auf sie warten?"
Die Kommissarin zögerte. „Ruf mich doch einfach auf dem Handy an, wenn sie kommt."
Schwester Frauke steckte den Kopf herein. „Ingrid, hast du Zeit für eine Beratung? Saphira ist schwanger."
Die Sozialpädagogin erhob sich. „Ist gut, ich komme."
„Ich melde mich bei dir, sobald Nadine auftaucht", versprach sie noch, dann folgte sie der Krankenschwester.
Sabine schlenderte nach Hause. Sie duschte ausgiebig, zog sich Jeans und einen leichten Baumwollpulli an, griff nach ihrer Wildlederjacke und verließ dann wieder das Haus. Sie fuhr mit der U-Bahn zu den Landungsbrücken hinunter. Dort drängte sie sich durch das sonntägliche Touristenheer und nahm dann
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