Der Duft des Blutes
Kinder, und das verhasste Tor samt Torhaus wurde wieder aufgebaut. Noch zwölf Jahre mussten die Menschen aus St. Pauli warten, bis in der Silvesternacht 1860 das Tor endgültig fiel.
Der Vampir schritt den Spielbudenplatz entlang, doch er nahm die hässlich abgewetzten Fassaden, die er passierte, gar nicht wahr. Er sah den prachtvollen Bau des Trichters, der sich später Hornhardts-Tlieätre Variete nannte. Noch königlicher kam gegenüber Ludwigs Konzerthaus daher, wie die Volksoper früher hieß. Seine pompöse Pracht ließ den Vampir vom Wiener Burgtheater träumen, denn die Großartigkeit kannte keine Grenzen: Im Wintergarten rauschte ein Wasserfall siebzehn Meter herab, geheimnisvoll erleuchtete Grotten verführten Mädchen zu heimlichen Tete-ä-Tetes. Und dann der Konzertsaal! Über einhundert Musiker und mehrere hundert Chorsänger ergötzten die zweitausend Besucher, die im Schein herrlicher Kronleuchter an den reichlich gedeckten Tischen tafelten. Die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts waren eine schillernde Zeit gewesen. So etwas wie Wehmut stieg in Peter von Borgo auf, als er an einer kleinen Condomerie und dann an dem lärmenden Ungetüm vorbeischritt, das die Disco Docks beherbergte. Die sanften Nebel vergangener Traumwelten legten sich schützend um ihn und führten ihn in die wilden 20er Jahre, in denen Richard Tauber in der Volksoper „Auf in den Kampf, Torero" gesungen hatte. Im Trichter wiegte man sich Wange an Wange im Tangorhythmus oder steppte im Charlestonfieber die Nächte durch. An welch süßen Mädchen in kurzen Flatterkleidern und mit feschem Bubikopf hatte er damals Nacht für Nacht genascht!
Am St.-Pauli-Theater blieb Peter von Borgo stehen. Wenigstens ein Relikt aus den schöneren Zeiten hatte überlebt, auch wenn sein Name stets im Wandel gewesen war. Erst hatte man es Urania Theater genannt, dann Variete, aus dem die Hamburger kurzerhand Warmtee gemacht hatten. Peter von Borgo lächelte, als er an die Aufführung des Stücks Familie Eggers oder eine Hamburger Fischfrau dachte, mit dem der Constabler Fritz Schölermann das Theater vor der Pleite gerettet hatte. Über fünfhundert Mal lief das Stück in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts und wurde vom Publikum bejubelt. Der Constabler allerdings musste seinen Dienst in der Davidswache quittieren, denn Theaterstücke schreiben schickte sich für einen ordentlichen deutschen Polizeibeamten nicht.
Der Vampir überquerte die Reeperbahn und bog in den „Hamburger Berg" ein. Hier, wo einst die Droge gestanden hatte, ein hölzernes Gestell, auf dem geteerte Ankertaue getrocknet wurden, reihten sich nun Kneipen zu beiden Seiten der Straße. Das hatte durchaus Tradition. Das erste Wirtshaus, das damals Zur Droge hieß, stand bereits, als Peter von Borgo im Jahre 1800 nach Hamburg kam. Das waren richtige Männer gewesen, die hier in den angrenzenden Schuppen in den Taurollen ihren Rausch ausschliefen. Sie rochen nach altem Schweiß und Teer, nach Bier und billigem Kautabak, und doch pulsierte ein kräftiger Saft unter den eisenharten Muskeln und der schwielenbedeckten Haut.
Nein, der Kiez, wie ihn die Hamburger inzwischen nur noch nannten, hatte seinen Charme verloren. Missmutig tappte der Vampir die Simon-von-Utrecht-Straße entlang. Da war es ihm doch lieber, im dichten Grün der Wallanlagen zu speisen. Ein paar verspätete Nachtschwärmer gab es in den Parks immer, und auf lauschig versteckten Bänken im Botanischen Garten, zwischen Bambus und japanischen Zierbäumen, schmeckte ihm sein Mahl besser als hier zwischen den Leuchtreklamen der Touristenfallen.
Plötzlich drang ihm ein Geruch in die Nase. Es war unverkennbar der herrliche Duft von jungem Blut, das, lebendig und hell, aus frischen Wunden perlt.
Der Vampir blieb stehen und sog ihn in sich auf. Seine Nasenflügel bebten. Nun konnte er auch die dazugehörenden Geräusche einordnen. Feste Schuhe traten auf einen weichen Körper ein. Neugierig trat Peter von Borgo durch das Tor in den düsteren Hinterhof. Der warme Schimmer der menschlichen Körper hob sich deutlich von den schmutzigen Wänden ab. Ein Mann, klein und untersetzt, trat auf eine Frau ein, die am Boden lag. Der Vampir konnte nur ihre nackten Beine mit den braunen Stiefeletten sehen, der Rest ihres Körpers war hinter Mülltonnen verborgen. Ein zweiter Mann, etwas größer und schlanker, stand daneben und zündete sich gerade eine Zigarette an. Die Flamme des Feuerzeugs knisterte leise. Die Atmosphäre von
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