Der Duft des Meeres
konnte mehr tun, als nur einen lebenden Menschen unsterblich zu machen. Sie konnte tatsächlich jede Seele nehmen, die der Torhüter in die Unterwelt geführt hatte, und sie zurück ins Land der Lebenden bringen«, erklärte Oscar, der immer schneller sprach. »Wann immer der Torhüter versucht hat, die Steine zurückzuholen, hat die Göttin ihn überlistet. Schließlich hatte er Erfolg, aber er konnte nur einen der Steine wiederfinden. Die Legende sagt, der andere Stein sei noch irgendwo in der Welt und warte auf jemanden, der seiner Magie würdig sei. All die Geschichten, die ich gehört habe, sagen, dass die Göttin eine Karte verzaubert hat, die zu dem anderen Stein führt. Eine Karte …« Oscar schaute wieder gedankenverloren zu Boden.
Camille konnte ihre Erheiterung nicht länger verbergen. Er klang wie einer der Matrosen im Vordeck, der von einem riesigen, Schiffe verschlingendem Meeresungeheuer sprach.
»Eine Zivilisation unsterblicher Menschen? Hast du auch nur die leiseste Ahnung, wie lächerlich das klingt? So etwas gibt es doch gar nicht.«
Eine leichte Röte überzog Oscars Wangen, und Camille wünschte, sie hätte sich die Bemerkung verkniffen. Oscar ging zum Tisch und schenkte sich ein Glas Wasser ein.
»Natürlich gibt es so etwas nicht. Aber deine Mutter hat gesagt, die Karte führe zu einem der Steine. Warum sollte sie das sagen?« Er nahm einen großen Schluck Wasser. »Warum sollte sie die Karte erwähnen, wenn sie nicht echt ist?«
Sie verbarg ihr Lächeln, aber nicht gut. Oscar stellte das Glas mit mehr Nachdruck als notwendig ab und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Nur zu, lach mich ruhig aus, wenn du willst. Aber der Legende zufolge hat der Torhüter der Unterwelt den fehlenden Stein mit einem Fluch belegt. Allein das Aussprechen des Namens des gestohlenen Steins – wie du es gerade getan hast –, zieht den Fluch auf dich.« Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Also solltest du besser hoffen, dass es nur ein Märchen ist.«
Camille seufzte. Ein Fluch von einem Stein schien so plausibel wie die Geschichte von einem Mann, der seinen Kopf in dem Saugnapf einer riesigen Krake verlor. Kein Wunder, dass ihr Vater nie gewollt hatte, dass dergleichen Geschichten an Bord der Christina erzählt wurden.
»Nun, jetzt, da ich verflucht bin, was habe ich zu erwarten?«, fragte sie und lächelte wieder. Sie hatte Oscar noch nie so bezaubert gesehen, und es war eine Seite von ihm, die absolut anbetungswürdig war. Er benahm sich wie ein ehrfürchtiger Junge, während er sie immer nur einen reifen, ernsten, gelassenen Mann hatte sehen lassen.
»Katastrophen und Unglück, bis du entweder dein Leben verlierst oder es irgendwie schaffst, den Stein zu finden. Aber es freut mich, dass du das komisch findest«, sagte er, ärgerlich darüber, dass sie ihn verspottete.
Katastrophen. Wie das Sinken der Christina. Der Tod ihres geliebten Vaters. Tränen bildeten sich in ihren Augen. Camille hob eine Hand an die Lippen und begann an einem Fingernagel zu kauen. Wenn man den Namen eines der Steine ausspricht … Umandu. Sie hatte den Namen schon einmal ausgesprochen. Auf der Christina, kurz bevor der Sturm aus dem Nichts zurückgekehrt war. Der kalte Wind, der unter ihr Nachthemd gefahren war … die Stimmen und dann die gelbgrüne Welle und das Gesicht darin. Nein. Die Legende konnte keine Bedeutung haben. Es war absurd, das auch nur in Erwägung zu ziehen.
»Wie kommt es, dass du diese Legende so gut kennst, während ich noch nie davon gehört habe?«, fragte Camille und lehnte sich gegen den Tisch, während sie alle Kraft in den Beinen verlor. Bevor Oscar auch nur ein Wort erwidern konnte, kannte Camille die Antwort. Es waren nicht nur Geschichten wie die über den Riesentintenfisch gewesen, vor denen ihr Vater sie zu beschützen versucht hatte. Was war, wenn er seine Matrosen gebeten hatte, auf solche Mythen zu verzichten, aus Angst, dass das Wort Umandu über ihre Lippen kommen könnte? Er konnte sie von Anfang an manipuliert haben, konnte so emsig darauf hingearbeitet haben, die Wahrheit zu verbergen, wie ein Eichhörnchen, das vor den Schneefällen des Winters in seinem Bau Eicheln hortete.
»Vergiss es«, flüsterte sie. »Aber was macht Uman – was macht ihn so ungewöhnlich?«
Camille erschien es eigenartig, wie dieser Stein mit dem Verschwinden ihrer Mutter vor sechzehn Jahren zusammenhing und warum sie auch an Stuart McGreenery einen Brief geschickt hatte.
Oscar rückte den
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