Der Duft des Regenwalds
lieber auf Dauer nach Deutschland verfrachten willst, dann …«
Ärger funkelte in seinen Augen.
»Kannst du nicht einmal mit deinem Misstrauen aufhören?«, unterbrach er sie lauter als notwendig. »Ich will nicht, dass du nur meinetwegen eine Entscheidung triffst, die du später bereust, das ist alles.«
»Aber ich bin kein kleines Kind und kann selbst beurteilen, welches Leben ich führen will«, erwiderte Alice und merkte, dass sie dabei ebenso trotzig wie ein Kind klang.
Die heisere Stimme eines Wärters verkündete das Ende der Besuchszeit. Ein paar der Frauen protestierten, wurden aber gepackt und hinausgezerrt.
»Los, geh schon! Sie nutzen diese Gelegenheit, die Frauen anzufassen, und bei dir täten sie das ganz besonders gern«, drängte Andrés, und sie gehorchte, denn diesmal war ihr klar, dass er um ihre Sicherheit besorgt war. Niedergeschlagen machte sie sich wieder auf den Weg ins Hotel. Zwei Nächte konnte sie dort noch verbringen, mehr hatte Juan Ramirez nicht bezahlt. Danach blieb ihr nur noch die Möglichkeit, ihren restlichen Schmuck zu verkaufen und abzuwarten, bis Hans Bohremann eintraf.
Drei Tage vergingen. Alice konnte einen weiteren Aufenthalt im Hotel bezahlen, indem sie ihre Ohrringe zu einem Pfandleiher brachte, der ihr dort empfohlen wurde. Sie besuchte Andrés regelmäßig im Gefängnis und wurde stets zur selben Stunde gemeinsam mit den anderen Frauen hinausgejagt. Bereits nach dem zweiten Besuch gesellte sich ein junges Mädchen vor dem Gefängnistor zu ihr und fragte nach kurzem verlegenen Kichern, bei dem sie sich die Hand vor den Mund hielt: »De dónde es?«
Alice, die über das fehlerfreie, gut verständliche Spanisch des Mädchens staunte, erklärte, aus Deutschland zu stammen. Zunächst erntete sie nur einen verwirrten Blick, fügte daher hinzu, dass dies ein Land in Europa sei, nördlicher gelegen als Spanien. Auf dem schmalen, haselnussbraunen Gesicht zeigte sich ein Hauch von Verständnis.
»Alemaña, Alemaña«, wiederholte das Mädchen mit einem ungläubigen Lachen. Dann wandte sie sich zu den anderen Frauen um, die in sicherem Abstand stehen geblieben waren und ihre mutige Gefährtin verstohlen musterten, als warteten sie auf den Moment, da sie von der fremden, blonden Frau entweder empört verjagt oder mit dem bösen Blick getötet würde. Das Mädchen kam jedoch unversehrt und lebendig zurück, um die soeben erfahrenen Neuigkeiten weiterzugeben. Erneut wurde Alice zum Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit, doch die Blicke der Frauen waren jetzt weniger verhalten, sondern neugierig. Das Mädchen machte wieder ein paar Schritte in Alice’ Richtung, kicherte noch mal, ohne sich den Mund dabei zuzuhalten.
»Yo soy Maria Bonita«, stellte sie sich vor. Alice nannte ihren Namen. Maria Bonita wandte sich zu den anderen Frauen um, winkte sie heran und sagte, wie sie alle hießen. Alice lächelte so freundlich wie möglich und war bemüht, sich alle Gesichter zu merken.
»Hasta luego!«, verabschiedete sie sich und brach in die Stadt auf, während die Frauen den Heimweg in ihre Dörfer einschlugen. Sie wusste, dass sie am folgenden Tag die meisten von ihnen wiedersehen würde, und fühlte sich dadurch etwas weniger allein.
Beim nächsten gemeinsamen Besuch nutzte Maria Bonita einen Augenblick, als die Wächter unaufmerksam waren, um Alice eine etwas breitere Stelle am unteren Ende des Gitters zu zeigen, durch die sich Bündel mit Tortillas und Bohnen schieben ließen. Die Männer griffen sofort danach und versteckten das Essen unter einer Decke, die vermutlich genau zu diesem Zweck dicht neben dem Gitter lag.
Als sie gingen, erfuhr Alice, dass Maria Bonita ihren Bruder besuchte, der zwei Ladinos angegriffen hatte und nun auf unbestimmte Zeit hinter Gittern saß. Sie wollte nicht näher auf die Umstände eingehen, ihr Spanisch reichte dazu nicht aus, aber Alice wusste, dass bisher kein indianisches Mädchen außer Ix Chel ihr ein derartiges Vertrauen entgegengebracht hatte. Die anderen Frauen konnten zwar nicht mit ihr sprechen, nahmen sie aber als Teil ihrer Gruppe hin.
Julio vermochte bereits seit zwei Tagen ohne Krücken zu laufen. Der Arzt war noch einmal erschienen, um ihm die Beinschiene abzunehmen, doch die Verletzung an seinem Arm war noch nicht so gut verheilt. Der Junge genoss es, wieder gehen zu können, und führte Mariana regelmäßig spazieren. Für Alice begann jedes Mal, wenn sie von dem Gefängnis zurückkehrte, eine Zeit des Wartens. Sie hatte
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