Der Duft des Regenwalds
noch niemals in ihrem Leben mit solcher Intensität gewartet, als sei ihr ganzes Dasein auf einen Augenblick hin ausgerichtet. Und dann, am späten Nachmittag des fünften Tages, als sie nach dem Besuch bei Andrés gerade den Schmutz und Staub von ihrem Körper waschen wollte, während Julio mit Mariana draußen war, klopfte es an der Tür.
»Alice? Tu es là?«
Sie erkannte ihn an der französischen Sprache, aber auch am Klang seiner Stimme.
»Da bist du ja endlich!«, rief sie und riss die Tür auf. Juan Ramirez sah nicht so tadellos aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Bartstoppeln sprossen auf seinem Kinn, und er trug ein schlichtes Hemd, dessen Kragen Schmutzflecken aufwies.
»Lo siento«, begann er, und sie fragte sich, wie oft sie diese Worte des Bedauerns schon von ihm gehört hatte. »Ich hätte nicht so überstürzt abreisen sollen.«
»Ich verstehe, warum du es getan hast«, erwiderte Alice freundlich, obwohl sie von seinem Verhalten alles andere als begeistert gewesen war. »Ich hatte dir nicht die ganze Wahrheit gesagt. Aber ich glaube, du hast ohnehin schon alles begriffen.«
Er nickte, ohne ihr dabei ins Gesicht zu sehen. Verlegen schob sie einen Stuhl in seine Richtung, auf dem er Platz nahm.
»Es war offensichtlich, nachdem du ihm nachgerannt bist«, knurrte er. Alice schluckte.
»Ich hätte es dir gleich erzählen sollen, aber es schien mir nicht der richtige Augenblick. Dann bist du einfach verschwunden.«
Juan Ramirez richtete sich auf und sah sie aus müden Augen an.
»Ich weiß, es war nicht richtig. Jetzt bin ich wieder hier, um dich zu Hans Bohremann zu bringen.«
»Andrés ist im Gefängnis«, berichtete Alice, während sie ihm ein Glas Wasser reichte und seinen überraschten Blick darüber, dass er von ihr bedient wurde, zur Kenntnis nahm. »Du kannst dafür sorgen, dass er freikommt. Dich kennen die Leute hier.«
»Ich weiß, dass er im Gefängnis ist«, sagte Juan Ramirez, während er trank. »Es traf ein Bote des Polizeipräfekten ein, kurz nach mir, und teilte uns mit, dass der flüchtige Indio gefangen genommen worden sei. Mein Schwager schickt mich, um ihn wieder auf die Plantage zu holen.«
Alice blieb ratlos vor ihm stehen.
»Du hast doch alles erklärt, nicht wahr?«, fragte sie nervös. Er stieß einen Seufzer aus.
»Es tut mir leid, dass du so schlecht von mir denkst«, sagte er. »Ja, ich habe von Dr. Scarsdales Geständnis erzählt. Außerdem erklärte ich, dass du dich in San Cristóbal von allen Strapazen erholen wolltest, bevor du weiter auf die Hazienda reist. Mehr sagte ich nicht.«
Erleichtert atmete sie auf.
»Hast du auch etwas anderes als Wasser zu trinken hier?«, fragte Juan Ramirez und streckte die Beine aus. Alice öffnete die Tür und rief einem Hotelangestellten zu, dass sie gern eine Flasche Comiteco und zwei Gläser hätten.
Sie schenkte Juan Ramirez ein, um sich von ihrer besten Seite zu zeigen. Sie stießen miteinander an, und Alice setzte sich auf das schmale Bett, wo für gewöhnlich Julio schlief.
»Wie gesagt, ich habe alles Weitere verschwiegen«, fuhr Juan Ramirez fort. »Du kannst diesem Irrsinn immer noch ein Ende setzen, ich werde dich nicht verraten.«
Sie richtete sich auf.
»Welchen Irrsinn meinst du?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort kannte.
»Dein Bruder konnte sich eine indianische Geliebte erlauben, denn viele Männer hier tun das«, erklärte Juan Ramirez. »Doch eine europäische Frau und ein Indio, das ist unerhört. Du wirst überall an Ansehen verlieren, manche werden dich behandeln, als wärst du eine gewöhnliche India aus irgendeinem Dorf. Aber ich weiß, wie verrückt du sein kannst. Und du warst ganz allein mit ihm. Ich werde schweigen, und du kannst Gras über die Sache wachsen lassen.«
Zufrieden nippte er an seinem Comiteco und musterte sie über den Rand des Glases hinweg. Alice atmete tief durch. Einen Streit mit Juan Ramirez zu beginnen wäre ein schwerer Fehler.
»Es ist sehr nett von dir, dass du Rücksicht auf meinen Ruf nimmst«, sagte sie. »Aber ich werde mein Leben nicht auf Hans Bohremanns Plantage verbringen. Zunächst einmal fahre ich nach Deutschland, und dann sehe ich weiter. Ich schäme mich nicht für mein Verhalten, und wenn manche Leute hierzulande mich dafür verurteilen, dann muss ich damit leben.«
Juan Ramirez stellte sein Glas auf einem kleinen Tisch ab, schenkte sich selbst noch mal ein und hielt Alice die Flasche hin. Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte bisher an ihrem
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