Der Duft von Safran - Holeman, L: Duft von Safran - The Saffron Gate
Aber ich habe zahlreiche französische Familien gekannt. Mein Mann war in der Fremdenlegion. Seine Uniform stand ihm ausgezeichnet.«
Ihr Blick folgte meiner Hand, während ich dem kleinen Hund über den Rücken streichelte. » Was für ein Tag ist heute?«, fragte sie und sah mich an.
» Dienstag.«
» Ob es morgen regnen wird?« Ihre Augen waren milchig blau und vom grauen Star getrübt.
Ich schüttelte den Kopf. » Ich glaube nicht, Madame. Es ist Sommer. Und im Sommer regnet es in Marrakesch selten, oder nicht?«
» Ich lebe seit vielen Jahren hier. Ich bin alt«, sagte sie. » Und vergesslich.«
Ich tätschelte Loulous Kopf und stand auf. » Ich bin sicher, Ihr Sohn wird Sie bald abholen, Madame Odette.«
» Wie spät ist es?«
» Beinahe fünf.«
» Er kommt um fünf. Er kommt hierher, um mich zu holen. Warte unter dem Bananenbaum, Mama , sagt er immer. Ich warte immer auf ihn.«
» Dann auf Wiedersehen, Madame. Und Loulou«, fügte ich hinzu, indem ich ein letztes Mal das seidige Ohr des Hundes berührte. Es zuckte, als hätte sich ein lästiges Insekt darauf niedergelassen.
»Wen suchen Sie denn, Mademoiselle?«, fragte Madame Odette und blickte zu mir hoch. Ihr Gesicht wurde von den Bananenblättern beschattet.
» Die Duvergers, Madame«, sagte ich, ohne ernsthaft eine logische Erwiderung von ihr zu erwarten.
» Marcel und Adelaide?«, sagte sie.
Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder, dann nahm ich erneut neben ihr Platz. » Ja, ja, Madame Odette. Die Familie von Marcel Duverger. Kannten Sie sie?« Ich ermahnte mich, mir nicht allzu große Hoffnungen zu machen.
Sie nickte. » Marcel und Adelaide, o ja. Und ihren Sohn … Ich erinnere mich an ein Unglück, eine Tragödie. An die Vergangenheit erinnere ich mich gut, Mademoiselle, aber nicht an den heutigen Tag. Sie hatten einen Sohn. Es war eine Tragödie«, wiederholte sie. » Ich habe einen Sohn.«
» Ihr Sohn hieß Guillaume. Er ist ertrunken.«
Sie musterte mich, den Kopf zur Seite geneigt, und ihre Augen waren mit einem Mal lebhafter, auch wenn ihre Iris wegen des grauen Stars gespenstisch wirkten. » Und sie hatten einen älteren Sohn.«
» Etienne. Kennen Sie Etienne?« Ich sprach jetzt schnell und mit erhobener Stimme.
» Ein wenig. Ein kluger junger Mann. Er ging nach Paris.«
» Ja, ja, das ist er, Madame Odette. Haben … haben Sie ihn in letzter Zeit gesehen?«
Sie streichelte das Hündchen an der Brust. » Nein. Aber ich gehe nicht aus, nur hierher komme ich jeden Tag. Mein Sohn erlaubt mir nicht auszugehen. Ich bin alt. Und vergesslich«, sagte sie abermals und schüttelte den Kopf. » Sie sind vor einigen Jahren gestorben. Zuerst Adelaide und dann der arme Marcel. In der Ville Nouvelle gibt es keine Duvergers mehr. Er war Arzt.«
» Ja, ja, Etienne ist Arzt«, sagte ich nickend, um sie zum Weiterreden zu ermuntern.
» Nein. Marcel. Viele Ärzte haben für den Nachrichtendienst gearbeitet. Nach der Eroberung Marokkos erwiesen sich die französischen Ärzte als besonders geeignet für die Spionage, um die Herrschaft in diesem Land zu festigen«, sagte sie, während ihre Stimme am Ende zu einem heiseren Flüstern wurde, als könnten sich feindliche Ohren in den Bäumen und Büschen um uns herum verstecken. » Mein Mann hat mir viele Spionagegeschichten erzählt. O ja, die Ärzte waren nicht immer nur Ärzte.«
Ich lehnte mich zurück. Während sie sprach, war ich auf den Rand der Bank vorgerutscht und hatte mich so nah zu ihr gebeugt, dass ich einen leichten Fliederduft wahrnahm, wobei ich mir nicht sicher war, ob er von ihrem Mieder oder aber von dem Hündchen auf ihrem Schoß herrührte. Enttäuschung durchströmte mich, und ich schloss einen Moment lang die Augen. Es interessierte mich nicht, was Etiennes Vater einige Jahrzehnte zuvor getan oder nicht getan hatte.
» Die Person, die Sie suchen, meine Liebe?«
Ich schlug die Augen wieder auf. » Ja?«
» Handelt es sich um einen Mann oder eine Frau?«
» Einen Mann. Etienne Duverger.«
» Und will er denn auch gefunden werden?«
Ich dachte einen Moment lang über ihre Worte nach. » Ob er gefunden werden will?«
Die alte Dame lächelte merkwürdig. » Manchmal … na ja, wenn jemand nicht gefunden wird, dann kann es daran liegen, dass er sich versteckt. Mein Mann hat mir viele Geschichten über Menschen erzählt, die nicht gefunden werden wollten.«
Mir war klar, dass ich mich die ganze Zeit über geweigert hatte, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen,
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