Der Duft
ansieht.
Der Vater trägt sie rasch die Treppe hinauf in ihr Zimmer, doch der Schrei aus dem Esszimmer durchdringt Wände und Türen.
Das Mädchen presst sich eng an ihren Vater. Sie spürt sein Zittern und versteht nicht, warum er die bösen Menschen in den
weißen Kitteln nicht fortjagt. »Ich will zu Mami!«, schluchzt sie.
»Mami muss für eine Weile ins Krankenhaus, Liebes!«, sagt der Vater. »Keine Angst, bald ist sie wieder gesund. Dann kommt
sie nach Hause, und alles ist wieder gut.«
Das kleine Mädchen spürt, dass er lügt, so wie Erwachsene immer lügen, wenn sie sich nicht trauen, Kindern die Wahrheit zu
sagen. Sie weiß, sie wird ihre Mutter nie wiedersehen.
Es klopfte erneut. Marie sah sich gehetzt um. Es erschien ihr plötzlich schrecklich leichtsinnig, dass sie so lange an |292| einem Ort verharrt hatten. Es war doch so leicht für Ondomar, zu erraten, wohin sie sich wenden würden – Deutsche ohne Papiere
in einem fremden Land. Und es war so offensichtlich, dass sie in einem der wenigen internationalen Hotels der Stadt absteigen
würden. Die Erleichterung darüber, es bis zur Deutschen Botschaft geschafft zu haben, hatte sie unvorsichtig werden lassen.
Was sollte sie tun? Das Zimmer lag im vierten Stock, die Fenster öffneten sich auf eine glatte Fassade über einer belebten
Straße. Flucht war ausgeschlossen. Die wenigen Versteckmöglichkeiten im Zimmer würden auch nicht helfen.
»Marie?«
Ihr wurde fast schwindelig vor Erleichterung, als sie Rafaels Stimme vor der Tür hörte. Sie öffnete.
»Entschuldige, Marie, ich … ich habe versucht zu schlafen, aber …«
»Komm rein!«
Er betrat das Zimmer nur zögernd, als wittere er eine Falle. Er wirkte seltsam verstört – seine unbekümmerte Selbstsicherheit
war wie weggeblasen. Machte auch er sich Sorgen, Ondomar könnte sie aufspüren?
Er setzte sich auf einen der beiden Sessel neben einem kleinen Tisch, auf dem eine Schale mit Obst stand. Der Anblick erinnerte
Marie daran, dass sie heute noch nichts Vernünftiges gegessen hatte. Sie nahm einen Apfel, setzte sich Rafael gegenüber auf
die Bettkante und biss in das köstlich saure Fruchtfleisch.
Im selben Moment wurde ihr klar, dass Rafael genau dasselbe Bild sah, das sie vorhin im Spiegel erblickt hatte. In dem vergeblichen
Versuch, ihre verschrammte Haut zu verbergen, zog sie den Hotelbademantel enger.
Rafael senkte den Blick. Er wirkte, als versuche er, ihr schonend eine schreckliche Wahrheit beizubringen. »Marie, ich … ich
wollte …«
|293| »Ich weiß«, sagte sie. »Wir sind hier nicht sicher. Ondomar kann sich sicher denken, wohin wir geflohen sind.«
Er blickte überrascht auf. »Nein … das heißt ja, vielleicht hast du recht. Aber das ist es nicht, was ich sagen wollte.« Er
senkte wieder den Blick, und plötzlich spürte Marie, wie sich ihr Puls beschleunigte.
»Es ist … Ich weiß, es verstößt gegen die Statuten der Firma, aber …« Er stand auf und setzte sich neben sie auf das Bett.
Er streckte eine Hand aus, wie um ihren Oberschenkel zu berühren, zog sie jedoch hastig wieder zurück. »Die letzten Tage …
mit dir … das war …«
Maries Herzschlag setzte einen Moment aus. Sie sah ihn an. Seine braunen Augen hatten etwas beinahe Flehendes. In ihr flammte
eine Sehnsucht auf, die sie bisher mit aller Macht unterdrückt hatte. Plötzlich verstand sie, dass es Schüchternheit war,
die ihn so stottern ließ. Ausgerechnet Rafael! Nach allem, was sie gemeinsam durchgemacht hatten!
Das bildest du dir ein, sagte die kritische Stimme ihres Verstands. Er ist nur durcheinander, weil der Stress der letzten
Tage von ihm abfällt. Was immer er dir sagt, kannst du nicht ernst nehmen.
Aber das war ihr egal. Sie wollte es hören. Hier und jetzt.
»Marie … ich … ich glaube, ich habe …«
»Ach du Scheiße!«
»Was?« Er zuckte zurück und sah sie erschrocken an.
Doch Maries Blick ging an ihm vorbei. »Das … das Gebäude da!« Sie deutete auf den Fernseher. Das Bild hinter dem Nachrichtensprecher
zeigte einen schlanken, spitz zulaufenden Wolkenkratzer. In seinem oberen Viertel war eine glitzernde Kugel eingelassen, die
undeutlich die Umrisse der Kontinente zeigte. Das Bild verschwand, und stattdessen wurden Bilder von schwarzen Limousinen
gezeigt, aus denen irgendwelche wichtigen Leute ausstiegen.
|294| Rafael folgte ihrem Blick. »Das ist das Tagungshotel, in dem diese Friedenskonferenz stattfindet. So ein
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