Der Duft
was? Du bist ein borniertes Arschloch!« Sie knallte den Hörer auf die Gabel.
»Das klang nicht so, als wäre es gut gelaufen«, kommentierte Rafael.
Marie wählte wortlos die Nummer der Copeland-Zentrale in New York. Dann wurde ihr klar, dass es dort noch mitten in der Nacht
war. Sie seufzte und legte den Hörer auf. »Ich fürchte, wir können erst mal nichts machen.«
»Doch. Wir können uns ein Hotel suchen und erst mal ausgiebig duschen!« Rafaels Grinsen wirkte ansteckend.
Es bedurfte einiger Überredungskunst und eines Telefonats mit der Botschaft, um die freundliche Dame am Empfang des Hilton
zu überzeugen, ihnen trotz ihres Anblicks die Zimmerschlüssel auszuhändigen. Marie ließ sich auf das luxuriöse, traumhaft
weiche Doppelbett fallen und wollte nie wieder aufstehen. Doch nach einer Weile rappelte sie sich hoch und ging ins Bad, um
zu duschen.
Als sie sich im Spiegel betrachtete, erschrak sie. Ihr Körper war übersät von verkrusteten Schrammen und blauen Flecken. Ihre
Lippen waren aufgeplatzt, und ihr Haar war so verfilzt, dass sie Zweifel hatte, ob sie es jemals wieder würde entwirren können.
Das warme Wasser schmerzte auf ihrer wunden Haut, doch mit dem Schmutz einer Woche ohne irgendwelche Hygiene fiel auch die
Anspannung ihrer Flucht von ihr ab. So etwas Einfaches wie fließendes warmes Wasser, noch vor einer Woche eine belanglose
Selbstverständlichkeit, erschien ihr jetzt wie ein unbegreifliches Wunder der Zivilisation.
Nach etwa zwanzig Minuten trocknete sie sich mit einem herrlich flauschigen Handtuch ab. Sie fühlte sich bleischwer, so als
habe sich ihr Körper mit dem köstlichen Nass vollgesogen. Sie wankte aus dem Bad und warf sich aufs Bett. Der Radiowecker
auf dem Nachtschrank zeigte Viertel vor zwölf. Sie hatte mit Rafael abgemacht, dass sie |290| sich um spätestens 16.00 Uhr in der Lobby treffen wollten, um zur Botschaft zu fahren und ihre Papiere abzuholen.
Sie stellte den Wecker auf Viertel vor vier und kuschelte sich unter die Bettdecke. Doch trotz ihrer bleischweren Glieder
konnte sie nicht einschlafen. Zu viel ging ihr durch den Kopf. Ihr fiel ein, dass sie eine Woche lang nichts vom Geschehen
in der Welt mitbekommen hatte. Sie schaltete den Fernseher an und zappte durch die Kanäle, bis der Nachrichtensprecher Englisch
sprach. Auf CNN lief ein Bericht über die jüngsten Börsenentwicklungen. Als Unternehmensberaterin hatte Marie die Wirtschaftsnachrichten
immer aufmerksam verfolgt, aber heute erschien es ihr belanglos, ob die US-Notenbank die Zinsen erhöhte oder auf dem aktuell
niedrigen Niveau beließ.
Sie wollte gerade weiterschalten, als es an der Tür klopfte. Sie zuckte zusammen. Eine schreckliche Gewissheit durchfuhr sie:
Sie kamen, um sie zu holen!
Das kleine Mädchen sitzt mit seinen Eltern beim Mittagessen, als es an der Tür klingelt. »Ich gehe schon«, sagt der Vater
und steht auf.
Die Mutter legt langsam die Gabel aus der Hand, auf die noch ein Stück Schnitzel aufgespießt ist. Mit großen Augen sieht sie
über das kleine Mädchen hinweg zur Esszimmertür.
Das Mädchen dreht sich um. Ein Mann und eine Frau kommen herein. Sie tragen weiße Kleidung, wie der freundliche Dr. Wellmann,
der ihr schon einmal eine Spritze gegeben und ihr danach ein Spielzeug geschenkt hat, weil sie so tapfer war.
»Bringen Sie das Kind raus!«, sagt die Frau. Ihre Stimme ist streng.
Der Vater geht zu dem Mädchen und legt ihr seine große, schwere Hand auf die Schulter. Sein Gesicht ist sehr, sehr traurig.
»Komm, Marie!«, sagt er.
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Doch das Mädchen will nicht mitkommen. Es weiß, dass hier etwas Schreckliches geschieht. Es muss nur in die großen, ängstlichen
Augen seiner Mutter schauen, ihre zusammengepressten Lippen sehen. Sie steht da, in eine Ecke des Raums gepresst, und zittert.
»Ganz ruhig, Frau Escher«, sagt der Mann. »Wir tun Ihnen nichts!« Aber das Mädchen weiß, dass er lügt.
»Mami!«, ruft sie und will zu ihr laufen, doch ihr Vater hält sie fest.
»Marie! Du musst jetzt mit mir mitkommen!« Er hebt sie mit seinen starken Armen hoch. Sie sieht, dass er Tränen in den Augen
hat.
Sie wehrt sich, strampelt, boxt mit ihren kleinen Fäusten gegen seine Schultern. »Nein, nein, nein!«, ruft sie. »Ich will
zu Mami! Ich will zu Mami!«
Doch der Vater trägt sie mit sich aus dem Raum.
Sie erhascht einen letzten Blick auf ihre Mutter, die sie stumm, mit großen, tränengefüllten Augen
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