Der Duft
Geruch nach Desinfektionsmittel verstärkten dieses Gefühl noch.
Immer wieder glitt Maries angstvoller Blick zu dem kleinen Bildschirm, auf dem Rafaels Herzschlag in einer gezackten grünen
Kurve dargestellt wurde. Jeden Moment rechnete sie damit, die Kurve würde abflachen oder aus dem gleichförmigen Piepen könne
ein schriller Alarmton werden.
Sein Zustand sei momentan stabil, hatte die Ärztin gesagt, doch es sei ungewiss, ob er durchkomme. Es grenze an ein Wunder,
dass er es trotz seines Blutverlusts überhaupt bis hierher geschafft habe. Ob und wann er aus dem Koma erwachen würde, wisse
niemand zu sagen, und es sei durchaus möglich, dass er bleibende Hirnschäden davontragen werde.
Marie blinzelte die Tränen beiseite. Die quälenden Gedanken ließen sie nicht in Ruhe: Was wäre gewesen, wenn sie bei ihm geblieben
wäre? Hätte sie seine Blutung verringern können? Oder hatte sie vielleicht den Killer mit ihrer Flucht davon abgehalten, Rafael
mit einem zweiten Schuss endgültig zu töten? Wären sie jetzt beide tot, oder wären seine Überlebenschancen deutlich besser
gewesen, wenn sie ihn nicht allein zurückgelassen hätte?
|404| Sie wusste, diese Fragen brachten überhaupt nichts, doch sie konnte sie ebenso wenig unterdrücken wie das nagende Gefühl,
dass derjenige, der Rafael das angetan hatte, immer noch frei herumlief – genau wie seine Auftraggeber.
Die Ärztin betrat den Raum und warf einen kurzen Blick auf die Instrumente. Was sie sah, schien sie nicht sonderlich zu beunruhigen.
Andererseits hatten sie es hier auf der Intensivstation ständig mit Menschen zu tun, die mit dem Tode rangen – Rafael war
da wahrscheinlich kein besonders aufregender Fall.
»Es tut mir leid, aber Sie können nicht die ganze Nacht hierbleiben.«
Marie nickte. Die Vorstellung, Rafael könne sterben, während sie im Gästebett ihres Vaters schlief, war grauenhaft. Doch sie
wusste, dass sie ihm jetzt nicht helfen konnte. Sein Schicksal lag nicht in ihrer Hand.
Die Ärztin bemühte sich, beruhigend zu lächeln. »Machen Sie sich keine Gedanken. Wir kümmern uns gut um Ihren Freund.«
Marie verließ die Intensivstation. Sie erschrak, als sie sah, dass nicht nur der Polizist, sondern auch ihr Vater und Irene
die ganze Zeit draußen gewartet hatten. Sie wusste nicht, wie viele Stunden sie stumm neben Rafael gesessen hatte, aber den
beiden musste es noch länger vorgekommen sein als ihr. Doch es war schön, das tröstende Lächeln zu sehen und die Umarmung
ihres Vaters zu spüren. »Danke«, sagte sie nur.
Sie aß nichts zu Abend und ging sofort ins Bett. Sie schlief unruhig und wachte kaum zwei Stunden später wieder auf. Hatte
das Telefon geklingelt? War es die Ärztin gewesen, die versucht hatte, ihr Rafaels Tod beizubringen? Oder war da draußen ein
verdächtiges Geräusch gewesen? Vielleicht schlich der Killer ums Haus? Sie versuchte, die Gedanken zu verdrängen, doch sie
konnte keine Ruhe |405| mehr finden. Sie hatte geträumt, sie sei wieder ein Kind, eingesperrt in den engen Schrank, doch dann hatte sie seltsame,
traurige Gesänge gehört, und plötzlich hatte sie begriffen, dass es kein Schrank war, in den sie eingezwängt war, sondern
ein Sarg.
Sie sah auf die Uhr: halb eins morgens. Sie überlegte ernsthaft, ein Taxi zu nehmen und wieder zur Klinik zu fahren. Sicher
kam man jetzt nicht so ohne Weiteres als Besucherin auf die Intensivstation, aber wenn sie all ihre Überzeugungskraft aufwandte,
würde sie vielleicht … Nein, das war lächerlich. Sie würde höchstens die Klinikangestellten davon abhalten, jemandem das Leben
zu retten. Sie konnte nichts tun, außer abwarten. Und beten.
Marie hatte seit Jahren nicht mehr gebetet. Ihr Vater war nicht sehr religiös – eigentlich war Religion zwischen ihnen nie
ein Thema gewesen. Ihre Mutter hatte oft mit ihr ein Abendgebet gesprochen, doch wenn es einen Gott gab, dann hatte er Marie
bisher wenig Anlass zur Vermutung gegeben, er würde ihre Bitten erhören. Was hatte es also für einen Zweck, sich ausgerechnet
jetzt an ihn zu wenden? Andererseits, schaden konnte es eigentlich auch nicht. Also versuchte sie, sich an ein Gebet aus ihrer
Kindheit zu erinnern. Doch alles, was ihr einfiel, war: »Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm …« Sie
hatte es aufgesagt, immer wieder, damals im Schrank.
Sie gab den Versuch auf. Ein Priester hätte ihr wahrscheinlich gesagt, die Sache mit ihrer
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