Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Duft

Titel: Der Duft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
fällt durch das kleine Schlüsselloch. Sie versucht, hindurchzusehen,
     kann jedoch nichts erkennen außer einem kleinen Fleck der weißen Wand.
    |175|
Sie lauscht in die Stille. Nichts ist zu hören. Wahrscheinlich hat sich auch ihre Mutter irgendwo versteckt. Mit klopfendem
     Herzen wartet das Mädchen auf Geräusche – das Öffnen der Haustür oder das Klappen eines Fensters, vielleicht das Bersten einer
     Scheibe. Schwere Schritte, dunkle Stimmen. Doch nichts ist zu hören außer dem Singen der Vögel und dem Lärm der Straße, die
     von weit her und gedämpft in das Versteck dringen.
    Das Mädchen wartet. Es ist eng und unbequem in dem Wandschrank. Vielleicht hat sich die Mutter geirrt. Vielleicht kommen die
     bösen Männer doch nicht, nicht jetzt jedenfalls. Bestimmt wird sie bald aus ihrem Versteck befreit.
    Doch die Mutter kommt nicht.
    Ihre Beine beginnen zu schmerzen. Die Dunkelheit und Stille machen ihr Angst. Sie möchte bei ihrer Mutter sein. Warum darf
     sie sich nicht gemeinsam mit ihr verstecken? Sie möchte nach ihr rufen. Aber ihre Mutter hat ihr gesagt, dass sie kein Geräusch
     machen darf. Vielleicht sind die bösen Männer ja doch schon im Haus. Vielleicht können sie so leise schleichen, dass man sie
     nicht hört.
    Sie zittert, muss weinen. So sehr sie auch ihre Hände vor den Mund presst, sie kann nicht verhindern, dass ihr bei jedem Schluchzer
     ein leises »Üff« entfährt. Doch niemand reißt die Schranktür auf.
    Das Mädchen weiß noch nicht genau, was Zeit ist. Sie kennt sich noch nicht aus mit Stunden, Minuten und Sekunden. Aber sie
     weiß, dass sie jetzt schon sehr lange in diesem Wandschrank sitzt. Ihre Beine schmerzen schrecklich. Sie hat versucht, sich
     in eine bequemere Lage zu bringen, aber es ist einfach zu eng.
    In ihr wächst eine neue Angst heran, eine Angst, die stärker ist als die Angst vor den bösen Männern. Es ist die Angst, nie
     mehr aus diesem Gefängnis herauszukommen. Sie wimmert, versucht jetzt nicht mehr, das Geräusch zu unterdrücken.
|176|
Schließlich hält sie es nicht mehr aus. Sie ruft nach ihrer Mutter. Leise erst, fast flüsternd, dann immer lauter. Schließlich
     trommelt sie mit den Fäusten gegen die Tür.
    Doch ihre Mutter kommt nicht. Niemand hört sie. Im Haus herrscht nur schreckliche Stille.
    Jetzt ist sie so verzweifelt, dass sie sich wünscht, die bösen Männer würden sie finden. Aber vielleicht wollen die bösen
     Männer sie gar nicht finden. Vielleicht stehen sie gerade jetzt draußen vor dem Schrank, hören sie um Hilfe schreien und lachen
     leise.
    Die Fäuste des Mädchens tun weh vom verzweifelten Klopfen gegen die Schranktür. Sie hat keine Kraft mehr. Sie spürt ihre Beine
     nicht mehr. Sie zittert und schluchzt.
    Die Dunkelheit vor ihren Augen beginnt zu flimmern. Gestalten scheinen sich daraus zu formen, Schatten, die noch schwärzer
     sind als Schwarz. Sie greifen mit langen Fingern nach ihr.
    Sie schreit, schließt die Augen, doch die Schatten sind immer noch da. Sie sind in ihrem Kopf. Sie presst beide Hände an die
     Ohren und weint.
    Irgendwann, nach langer, langer Zeit hört sie eine Stimme. »Liebling?«
    Zuerst glaubt sie, die Gespenster in dem Wandschrank rufen nach ihr. Doch die Stimme ihres Vaters erklingt erneut. »Liebling?
     Marie? Wo sind denn meine beiden Goldstücke?«
    Ein Schreck durchfährt sie. Wenn es die bösen Männer sind? Wenn sie die Stimme verstellen, damit es sich so anhört wie ihr
     Vater? Wenn sie sie locken wollen, damit sie ihr Versteck preisgibt, damit sie sie finden und mitnehmen können? Doch die Sehnsucht,
     endlich aus der Dunkelheit befreit zu werden, ist zu groß.
    »Papi!«, ruft das Mädchen. Es erschrickt. Die Stimme klingt leise und seltsam, als wäre es gar nicht ihre. Panik erfüllt sie.
     Wenn sie nun niemand hört? Wenn sie nie wieder
|177|
jemand findet? »Papi!«, ruft sie, so laut sie kann. Diesmal klingt es ein bisschen kräftiger.
    Sie hört Schritte auf der Treppe. »Marie?« Die Stimme ist jetzt schon viel näher.
    Sie trommelt mit ihren Fäusten gegen die Tür. »Papi!«
    Sie schluchzt das Wort mehr, als dass sie es ruft, doch er hat sie gehört. Der Schlüssel dreht sich, und dann überflutet sie
     Licht, das in den Augen weh tut.
    »Marie! O mein Gott!« Ihr Vater hebt sie empor, presst sie an sich. Sein vertrauter Geruch umhüllt sie wie eine schützende
     Decke. Sie zittert am ganzen Körper.
    »Mein armes, armes Schätzchen«, sagt ihr Vater und streichelt

Weitere Kostenlose Bücher