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Der Duft

Titel: Der Duft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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kurzem Zögern antwortete Ondomar, indem er sein Pferd von g8 nach f6 zog. Marie
     zog den Bauern vor dem linken Läufer, um ihre Dame ins Spiel zu bringen: c2-c4. Ondomar antwortete mit g7-g6 und öffnete so
     den Weg für seinen Läufer. Die Grünfeld-Variante der Indischen Verteidigung. Genau wie sie selbst schien Ondomar ein aggressives
     Spiel ohne langwierigen Stellungskrieg zu bevorzugen. Und es war schnell klar, dass er ihr ein mindestens ebenbürtiger Gegner
     war.
    Sie wurde vorsichtiger, überlegte länger. Ondomar tappte in keine einzige der Fallen, die sie ihm stellte. Im Gegenteil erkannte
     sie einmal erst im letzten Moment, dass ihre vermeintliche Überlegenheit eine potenziell tödliche Gefahr zwei Züge später
     darstellte.
    |235| Ondomar lächelte, als er merkte, dass sie die Gefahr erkannt hatte. »Nutze die Kraft deines Gegners, um ihn zu besiegen. Ein
     altes Prinzip chinesischer Kampfkunst.«
    Maries Respekt wuchs.
    Nach einer Viertelstunde war aus einem harmlosen Spiel eine verbissene Schlacht geworden. Schweiß perlte auf Maries Oberlippe,
     während sie verzweifelt versuchte, die völlig verfahrene Situation auf dem Brett zu ihren Gunsten zu verändern. Doch auch
     Ondomar wirkte angespannt. Immer wieder kratzte er sich mit der behandschuhten Linken am Ohr.
    Nach einer Weile lehnte er sich zurück. »Ich verliere nicht gern. Deshalb biete ich Ihnen ein Remis an.«
    »Angenommen.« Marie war sich absolut nicht sicher, ob sie das Spiel tatsächlich hätte gewinnen können. Und vielleicht war
     es auch besser, nicht herauszufinden, ob Ondomar ein schlechter Verlierer war.
    »Es ist das erste Mal, dass ich mich einer Frau im Schach geschlagen geben muss.« Ondomar lächelte. »Und auch sonst scheinen
     Sie mir eine ebenbürtige Gegnerin. Ich muss sagen, ich bin sehr froh, Sie getroffen zu haben, wenn auch unter Bedingungen,
     die kaum zu einer dauerhaften Freundschaft beitragen dürften.«
    »Freundschaft beruht auf Freiwilligkeit.«
    Ondomar nickte. »Nun, unsere Abmachung ist damit wohl hinfällig. Ich kann sie leider nicht zwingen, mein Geschenk anzunehmen.
     Bitte erlauben Sie mir, es Ihnen trotzdem zu zeigen.« Er verschwand in dem abgeteilten Schlafraum des Zeltes und kam kurz
     darauf mit einem Bündel zurück. Er entfaltete es und hielt ein herrliches Kleidungsstück aus rotem und orangefarbenem Stoff
     in die Höhe. Es bestand aus einer Hose, einem langen Überwurf und einem breiten Schal und war kunstvoll mit Perlen und Ornamenten
     bestickt. »Das ist ein Salwar Kamiz, ein traditionelles |236| Kleid aus meiner Heimat Afghanistan«, erklärte er. »Wenn Sie erlauben, dann möchte ich es Ihnen gern schenken, als kleine
     Wiedergutmachung für die Strapazen, die ich Ihnen aufgebürdet habe.«
    Marie dachte an ihre Entführung, die entwürdigende Behandlung durch die Männer, ihre Todesangst. Ein orientalisches Kleid
     konnte wohl kaum eine angemessene Entschädigung dafür sein. Andererseits war es wirklich sehr schön. Sie hatte sich nie viel
     aus ihrem Äußeren gemacht – es war ihr immer nur wichtig gewesen, professionell und ordentlich auszusehen. Noch nie hatte
     sie sich etwas so Buntes und Auffälliges gekauft, das traditionell und gleichzeitig irgendwie auch sehr modern und chic wirkte.
     Sie ertappte sich bei dem Gedanken, was Rafael sagen würde, wenn er sie darin sähe.
    Doch dann dachte sie an Borg und dessen schäbige Experimente, und plötzlich schien ihr Ondomars Freundlichkeit wie eine dünne
     Maske. Er wollte sie für sich einnehmen, sie verführen, so wie er vermutlich schon unzählige Menschen verführt hatte, für
     ihn in den Tod zu gehen. Sie musste zugeben, dass er eine enorme Ausstrahlung besaß, der sie sich kaum entziehen konnte. Doch
     wenn er glaubte, sie so leicht umgarnen zu können, war er an die Falsche geraten. Marie hatte gelernt, was es bedeutete, ihren
     Gefühlen die Kontrolle zu überlassen – ihre Mutter hatte es ihr überdeutlich gezeigt.
    »Es tut mir leid, aber ich kann Ihr Geschenk nicht annehmen«, sagte sie.
    Ondomar machte einen gekränkten Gesichtsausdruck. »In unserem Land gilt es als eine Beleidigung, ein Geschenk abzulehnen«,
     sagte er. »Aber das können Sie nicht wissen, deshalb will ich Ihnen verzeihen. Würden Sie mir denn wenigstens den Gefallen
     tun, das Kleid einmal anzuziehen? Ich würde gern sehen, wie es an Ihnen wirkt.«
    |237| Marie spürte plötzlich den Druck des Fläschchens in ihrem BH. Wenn Ondomar es fand …

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