Der Duft
besaßen eine
ungewöhnliche, fast hypnotische Kraft. Nur seine Hände in den schwarzen Lederhandschuhen störten Marie. Sie wirkten abweisend.
Ondomar entging nichts. Als habe er ihre Gedanken erraten, hielt er seine rechte Hand hoch. »Sie fragen sich vielleicht, warum
ich immer diese Handschuhe trage. Glauben Sie mir, ich weiß, dass sich das nicht gehört. Aber der Anblick der Hände unter
diesem schwarzen Leder würde Ihnen nicht gefallen. Und ich muss gestehen, ich bin manchmal ein bisschen eitel.«
Marie spürte, dass mit seinen Händen eine Geschichte verbunden war, die sehr tief in Ondomars Persönlichkeit hineinreichte
– und dass er dieses Erlebnis erzählen wollte. Vielleicht konnte sie daraus etwas Wichtiges lernen. »Sind Sie verletzt worden?«
Er sah sie stumm an. »Das ist eine alte Geschichte«, sagte er nach kurzem Zögern. »Ich will Sie nicht damit langweilen.«
Marie bemühte sich, aufmunternd zu lächeln. »Sie langweilen mich nicht«, sagte sie und musste sich zugleich eingestehen, dass
das stimmte. So schrecklich es angesichts der Umstände sein mochte – sie genoss tatsächlich den Abend mit diesem Mann, der
sich beharrlich weigerte, in das Bild des Monsters zu passen, das sie sich von ihm gemacht hatte.
Er nickte ernst. »Also schön. Es war in Afghanistan. Ich war damals acht. Mein Vater war ein Mudschahed, ein Freiheitskämpfer
im Widerstand gegen die russischen Besatzer. Wir lebten in einem kleinen Dorf südlich von Kandahar. Eines Tages flogen russische
Hubschrauber dicht |233| über unsere Häuser. Am nächsten Tag brachte meine kleine Schwester Naqiya, sie war damals fünf, einen merkwürdigen Gegenstand
mit nach Hause. Sie hatte ihn draußen auf dem Feld gefunden. Er war bunt angemalt und sah aus wie eine einfache Puppe aus
Metall. Als mein Vater das sah, wurde er blass. ›Naqiya, gib das sofort her‹, sagte er. ›Das ist ein böses Ding!‹ Naqiya bekam
einen Schreck, und ich sah, wie sie das Ding fallen ließ. Instinktiv wollte ich es auffangen, doch ich war nicht schnell genug.
Als das Gebilde auf dem Boden aufschlug, explodierte es.«
Er stockte. Die Erinnerung schien ihn immer noch zu schmerzen. Marie sagte nichts.
»Naqiya war sofort tot. Meine Hände sind seitdem entstellt.« Ondomars Gesichtsausdruck wurde hart. »Die Russen haben geglaubt,
sie könnten uns demoralisieren, indem sie unsere Kinder töten. Aber sie haben sich getäuscht. Seit jenem Tag haben wir nur
umso härter gegen sie gekämpft. Mein Vater wurde vier Jahre später getötet, als er eine Mine unter einem russischen Panzer
versteckte. Er hat vier Feinde mit in den Tod gerissen. Ich wollte auch immer ein Mudschahed werden, aber als ich alt genug
war, hatten wir den Befreiungskampf bereits gewonnen.«
Marie sah den tiefen Schmerz in seinem Gesicht, und plötzlich glaubte sie, seine Abscheu für den Westen zu verstehen. Sie
selbst hatte keine Geschwister, doch was konnte es Schlimmeres geben, als mit eigenen Augen zu sehen, wie der Körper der kleinen
Schwester zerfetzt wurde? Die USA hatten damals die Mudschaheddin im Kampf gegen die Russen unterstützt, aber sie hatten es
aus eigensüchtigen Motiven getan, um sich im Kalten Krieg einen Vorteil zu verschaffen. Ondomar musste das wie blanker Zynismus
vorkommen.
»Das ist eine schreckliche Geschichte«, sagte sie.
»Ja, das ist es.« Zorn funkelte in seinen Augen. »Ich frage |234| Sie, Marie: Wie tief muss ein Mensch sinken, um Bomben zu entwerfen, die wie Spielzeug aussehen? Um unschuldige Kinder zu
seinen Waffen zu machen – selbst wenn es die Kinder der Feinde sind?«
Marie wusste darauf keine Antwort.
Ondomar rief etwas auf Arabisch. Ein Afrikaner, der offenbar vor dem Zelt gewartet hatte, kam herein, um den Tisch abzuräumen.
Ondomar holte ein hölzernes Schachbrett hervor. Einem verzierten Kästchen entnahm er Figuren aus kunstvoll bearbeitetem Elfenbein
und Ebenholz. Er hielt Marie beide Könige hin. »Sie haben die Wahl der Farbe.«
Ohne zu zögern griff Marie nach der weißen Figur.
Ondomar lächelte. »Die Seite des Angreifers. Sie haben gern die Initiative in der Hand. Eine gute Wahl.«
Marie eröffnete, indem sie den Bauern vor ihrer Dame zwei Felder vorzog: d2-d4. Ondomar sah sie an, als sei er nicht sicher,
ob das ein Anfängerfehler war oder eine besonders raffinierte Eröffnung. Weitaus häufiger und sicherer für Weiß war es, eine
Partie mit dem Königsbauern zu beginnen. Nach
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