Der Duft
Rafael. Er schrieb: »Sie töten uns so oder so.«
Marie starrte die Schrift lange an. Ihr wurde plötzlich klar, wie recht er hatte. Sie wussten schon jetzt zu viel. Ihre Informationen
über das Lager waren bestimmt wertvoll für die Anti-Terror-Behörden. Aber warum hatte Ondomar sie dann überhaupt hierher gebracht?
Warum hatte er sie nicht schon längst erschießen lassen?
Die Hitze wurde immer drückender. Sie legten sich auf ihre Betten und dösten vor sich hin. Draußen unterhielten sich die beiden
Araber leise. Manchmal lachten sie. Marie verspürte Sehnsucht nach Rafaels Nähe, aber sie traute sich nicht, sich zu ihm zu
legen.
Gegen halb drei ertönte der Alarm erneut. Ihre beiden Bewacher kamen zu ihnen ins Zelt und warteten stumm, bis der Heulton
vorbei war. Um Viertel vor sechs wiederholte sich die Prozedur. Maries mathematisch geschulter Verstand erkannte sofort den
festen zeitlichen Abstand zwischen den Ereignissen. Sie brauchte nicht lange, um darauf zu kommen, was das bedeuten musste.
»Satellit«, kritzelte sie in den Sand, nachdem ihre Bewacher das Zelt wieder verlassen hatten.
|227| Rafael nickte.
Gegen halb sieben bekam Marie Hunger. Zum Mittagessen hatten sie nichts bekommen außer ein paar Flaschen Wasser, die einer
der Bewacher gebracht hatte. In der Hitze hatte Marie auch wenig Appetit verspürt, doch jetzt meldete sich ihr knurrender
Magen.
Die Zelttür öffnete sich, doch es war nicht der Afrikaner, der ihnen heute Morgen das Frühstück gebracht hatte, sondern der
Araber, der den Laster gefahren hatte. »My name is Kadin«, sagte er und deutete auf Marie. »You, come with me.«
Rafael machte Anstalten, ebenfalls aufzustehen und ihr zu folgen, doch Kadin schüttelte nur den Kopf. »Not you. General says,
only woman.«
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|228| 26.
Eine Panikattacke überfiel Marie. Sollten sie jetzt für immer getrennt werden? Doch was konnte sie tun? Es blieb ihr nichts
anderes übrig, als Kadin zu folgen.
Er führte sie quer durch das Lager bis zu einem Zelt, das etwas größer war als die anderen, sich ansonsten aber äußerlich
kaum unterschied. Dieser Eindruck änderte sich allerdings, als sie eintraten. Kunstvolle Teppiche bedeckten den Sandboden.
Darauf standen ein Tisch aus dunklem Holz, der mit Schalen voller duftender Reisgerichte bedeckt war, und vier kunstvoll gedrechselte
Stühle mit hohen Lehnen. Zwei Plätze waren mit Porzellan und Silberbesteck eingedeckt. Ein Nebenraum war durch einen transparenten
Vorhang abgeteilt. Dort war auf dem Boden ein Nachtlager mit vielen seidenbezogenen Kissen ausgebreitet.
An der Seite des Raums stand ein großer Schreibtisch, der noch aus der Kolonialzeit stammen musste. Auf einem Stapel Papiere
lag eine bunte Broschüre, deren Titelseite ein schlanker Wolkenkratzer zierte. Nariv Ondomar erhob sich von dem modernen,
lederbezogenen Stuhl und schaltete seinen Laptop aus.
»Guten Abend, Frau Escher«, sagte er und streckte ihr seine behandschuhte Rechte entgegen. »Ich hoffe, Sie erweisen mir die
Ehre, mit mir gemeinsam zu Abend zu essen.« Sein Lächeln war warm. Er sagte etwas auf Arabisch. Kadin verbeugte sich und ließ
sie allein.
Marie ergriff verwirrt die Hand, die sich unter dem Leder seltsam steif anfühlte.
»Setzen Sie sich doch, bitte!«
|229| Maries erster Impuls war, Ondomars falsche Freundlichkeit mit Verachtung zu erwidern. Doch ihr Verstand sagte ihr, dass es
ihr wahrscheinlich mehr nützte, wenn sie seine Einladung annahm. Vielleicht konnte sie dadurch mehr Freiheit für sich und
Rafael erreichen. Also setzte sie sich zögernd auf den ihr zugewiesenen Platz.
»Wir bekommen hier nicht oft Damenbesuch«, sagte Ondomar in lockerem Plauderton. »Erst recht nicht so charmanten! Der Krieg
ist eben immer noch Männersache.«
Marie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.
Er schenkte ihr ein Glas französischen Rotwein ein. »Sie fragen sich sicher immer noch, warum ich Sie beide in dieses Lager
habe bringen lassen. Nun, ich gebe zu, dass das in erster Linie geschah, weil Sie mir als Geiseln nützlich sein könnten. Doch
jetzt, wo ich Sie hier vor mir sehe, wird mir klar, dass ich Sie niemals benutzen könnte, um irgendwelche unerfüllbaren Forderungen
zu stellen.«
»Soll das heißen, Sie lassen uns frei?«
Statt eine Antwort zu geben, hob Ondomar das Glas. »Auf Ihre Gesundheit«, sagte er und nahm einen Schluck.
Marie fand diesen Trinkspruch angesichts der Umstände
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