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Der dunkle Kuss der Sterne

Der dunkle Kuss der Sterne

Titel: Der dunkle Kuss der Sterne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Blazon
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hochzuziehen. Sie schwankte und knackte – das wahnwitzige Kunststück eines verrückten Akrobaten, der sich gleich den Hals brechen würde.
    Ich weiß nicht, wie ich es schaffte, aber ich gewann zwei Meter, bevor meine Verfolger in den Raum stürzten.
    »Holt sie da runter! Sofort!«
    Ich sah mich nicht um, schob mir die Taschenlampe zwischen die Zähne und stieß mich ab. Meine Fingernägel kratzten über Mauerwerk, aber ich schaffte es, in den Spalt zu greifen. Mein Fuß fand Halt. Nur noch zwei Handbreit! Unter mir fiel die Stuhlkonstruktion um. Das Gepolter echote im Raum.
    »Eine Leiter, schnell!«
    Meine Zähne schmerzten, so fest biss ich auf die Taschenlampe, ich keuchte und fluchte in Gedanken, während ich mich mit zitternden Muskeln hochzog – bis ich auf dem Vorsprung der Scharte saß wie auf einem Fensterbrett.
    »Komm runter, Mädchen, sonst wird es nur noch schlimmer für dich!«
    Eher breche ich mir den Hals , dachte ich grimmig. Nur aus den Augenwinkeln konnte ich die Gruppe schwarz gekleideter Gestalten sehen – und eine Frau, die mit einer Leiter unter dem Arm in den Raum rannte.
    Mein Atem hallte in meinen Ohren und ich betete, dass die Scharte nicht vergittert war. Ich tastete über schmutzverkrustetes Glas – und ein weiteres Schlüsselloch. Meine Hände zitterten, als ich nach dem richtigen Schlüssel suchte. Nimm den blanken Schlüssel, den scheint Maram nie zu benutzen, flüsterte mir meine Stimme ein. Wenigstens mein drittes Talent, das mir dabei half, die richtigen Wege zu finden, ließ mich nicht im Stich. Es knirschte, als das Fenster aus seiner Verankerung schwang. Panzerglas, so dick wie ein Backstein. Keuchend zog ich mich hoch. Es war dunkel geworden, die staubige Straße unter mir war leer. Unendlich weit unten lehnten schäbige Marktstände wie müde Bettler an der Mauer. Ich fädelte die Beine durch die Scharte. Sie war so eng, dass ich mich nur seitlich hindurchschieben konnte. Meine lädierten Rippen schmerzten, als ich mich rückwärts nach draußen schob, den Blick auf die Gespenster gerichtet, die Beine draußen in der noch warmen Abendluft. Die Taschenlampe rutschte mir aus dem Mund. Im Fallen fing ihr Licht zwei Gespenster ein, die eben die Leiter an die Wand lehnten. Dann kam die Lampe auf dem Boden auf, sprang zurück und blieb schräg an die Wand gelehnt liegen. Das Licht brach sich in zerkratztem … Glas? Ich zögerte nur eine Sekunde, aber die Zeit schwang in diesem Herzschlag wie eine Ewigkeit. Der Boden bestand tatsächlich aus Glas. Und darunter, wie unter Wasser, Menschen! Die meisten waren älter oder schon Greise. War das eine Station für Sterbende? Nein, sie wirkten eher wie Menschen, die dem Traumwahnsinn verfallen waren. Wie Ertrinkende wanden sie sich auf kargen Lagern, nicht mehr als Matratzen. Manche schrien, aufgeschreckt durch den Lärm und das Licht, unhörbar unter Glas, Wahnsinnige, die nicht bei sich waren. Wie bei Schlafwandlern irrten ihre Blicke. Im Bruchteil dieser Ewigkeit entdeckte ich eine junge Frau, kaum älter als zwanzig, deren langes Kastanienhaar sich über den Boden breitete wie ein Fächer. Sie schrie nicht, ihre Augen waren geschlossen und in ihrem Gesicht nichts außer einer stumpfen Verzweiflung.
    Träume führen in den Wahnsinn, hörte ich Maram sagen . Solche haben wir hier auch – tragische Schicksale.
    »Ich habe sie!« Eine Hand krallte sich in meinen Ärmel. Das Mädchen unter Glas öffnete die Augen. Ihr leerer Blick fand meinen. Und es war, als würde ich in ein grauenvolles Spiegelbild blicken.
    Es war dieser Schreck, der mir die Kräfte verlieh. Mit einem Schrei stieß ich die Frau, die mich gepackt hatte, grob zurück. Sie verlor das Gleichgewicht, rutschte ab, aber sie ließ mich nicht los. Mein Arm wurde mit einem Ruck nach unten gezogen, aber ich verhakte mich in der Scharte und biss die Zähne zusammen. Stoff riss, dann war mein Arm frei. Ich robbte weiter zurück, zappelte und strampelte, damit das Gewicht meiner Beine mich nachzog – und rutschte endlich ins Freie.
    Einen Atemzug lang verlor ich jedes Gefühl für oben und unten. Stoff bremste meinen Fall und riss, Holz splitterte, ein reißender Schmerz zuckte durch meinen Knöchel. Ich brach durch das Dach des Markstandes und landete in etwas, das sich anfühlte wie glitschig nasser Samt. Der betäubend süße Duft von Farin-Früchten stieg mir in die Nase. Als Kind hatte ich den goldgelben, zuckrigen Saft geliebt. Jetzt durchweichte er meine Kleidung,

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