Der dunkle Punkt
ihm drei Fotografien.
Ich betrachtete sie lange und gründlich, um sicherzugehen, daß ich die Frau wiedererkannte, falls sie mir jemals über den Weg lief.
»Nun?« fragte Cutler erwartungsvoll.
»Tja, ich weiß nicht recht. Gesehen hab’ ich sie schon mal, das ist sicher. Aber wo, fällt mir im Moment nicht ein. Es könnte hier in einer Bar gewesen sein. Ich muß noch mal darüber nachdenken.« Ich stieß Bertha an und wollte Cutler die Fotos zurückgeben. Bertha riß sie mir ohne viel Umstände aus der Hand und murmelte: »Ganz nett, falls man was für Puppengesichter übrig hat.«
Ich habe die Angewohnheit, bei jedem Foto, das ich sehe, Charakterstuchen zu betreiben. Edna Cutler hatte so ziemlich dieselbe Figur wie Roberta Fenn und das gleiche dunkle Haar. Aber das war auch alles. Roberta hatte eine gerade Nase und ernste, nachdenkliche Augen. Ich hielt sie für besonnen und vernünftig. Sie würde sich vermutlich niemals völlig aus der Hand lassen und selbst in der heitersten Stimmung einen kühlen Kopf bewahren. Edna Cutler war offenbar genau das Gegenteil, flatterhaft, eigenwillig, launisch, eine Spielernatur. Sie würde alles auf eine Karte setzen in der festen Überzeugung, daß es für sie nur ein Gewinnen gibt. Auf die Idee, daß sie auch verlieren könnte, kam sie wahrscheinlich gar nicht. Roberta wiederum gehörte zu dem Typ, der alle Risiken einkalkuliert und nur so viel wagt, wie er sich leisten kann.
Bertha gab Cutler die Fotos zurück.
»Sie scheint noch ziemlich jung zu sein«, erkundigte ich mich.
Cutler nickte. »Sie ist zehn Jahre jünger als ich. Der Altersunterschied hat vermutlich auch mitgespielt. Aber ich habe Sie schon lange genug aufgehalten. Meine privaten Sorgen dürften Sie kaum interessieren.«
»Tut mir leid, daß ich Ihnen nicht von Nutzen sein konnte. Vielleicht fällt’s mir später wieder ein, wo ich Ihrer Frau begegnet bin. Kann ich Sie irgendwo erreichen?«
Er gab mir seine Karte. Der Aufdruck lautete: >Marco Cutler, Finanzberater, Hollywoods Ich steckte sie ein und versicherte ihm noch einmal, ich würde mich melden, wenn mir etwas Zweckdienliches einfiele.
»Mein Name steht im Fernsprechbuch«, mischte sich Goldring ein. »Rufen Sie mich an, wenn Sie was hören. Auch wenn Sie mal eine Vorladung oder so was zu übergeben haben, dann wenden Sie sich an mich.«
»Ich werd’ mir’s merken«, versprach ich und wandte mich wieder an Cutler. »Was ich bei der Sache nicht begreife, ist, warum Sie sich nicht hinter Ihre Frau klemmen. Wenn sie behauptet, daß sie zu dem betreffenden Zeitpunkt hier nicht anwesend war, dann muß sie das zunächst einmal beweisen, und das dürfte nicht so leicht sein. Irgendwo muß sie ja schließlich gesteckt haben, und Sie können zumindest verlangen, daß sie Ihnen darüber Auskunft gibt.«
»Sicher, aber die Sache hat einen Haken. Meine Frau ist leider sehr eigenwillig und Vernunftgründen nickt zugänglich.« Er nickte Goldring zu. Sie erhoben sich. Goldring steuerte nach einem letzten Rundblick auf die Tür zu. Cutler blieb stehen. »Ich habe Ihre Geduld über Gebühr in Anspruch genommen. Entschuldigen Sie vielmals und herzlichen Dank.«
Als sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte, drehte Bertha sich zu mir um. »Der Kerl gefällt mir.«
»Ja, er hat eine angenehme Stimme und ...«
»Quatsch! Ich meine doch nicht Cutler, ich meine Goldring.«
»Ach so!«
»Dieser Cutler ist ein aalglatter, mit allen Wassern gewaschener, widerlicher Heuchler«, charakterisierte sie ihn. »Jemand, der so höflich ist, kann unmöglich aufrichtig sein. Der Kerl lügt wie gedruckt, verlaß dich drauf. Aber Goldring gefällt mir. Der geht nicht wie die Katze um den heißen Brei. Goldring ist in Ordnung.«
Ich versuchte, Goldrings rauhe Stimme zu imitieren. »Stimmt.«
Bertha funkelte mich erbost an. »Manchmal würde ich dich am liebsten kaltlächelnd erwürgen, du verdammte kleine Kröte, du! Los, komm schon! Wir müssen Hale anrufen. Wenn er noch nicht in New York ist, können wir für ihn wenigstens eine Nachricht durchgeben.«
7
Wir saßen in meinem Hotelzimmer und warteten. Die Zentrale hatte schon ein paarmal vergebens in Hales Büro und seiner New Yorker Privatwohnung angerufen. Es meldete sich niemand. Bertha nahm die Mitteilung entgegen und trompetete in die Muschel: »Wir wissen nicht, wann er in New York ankommt. Auf jeden Fall irgendwann heute nacht. Versuchen Sie’s weiter.«
»Ich habe Hunger«, erklärte ich. »Für
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